Es gibt ein Thema, über das ich bereits seit längerem immer wieder in verschiedenen Konstellationen stolpere. Zugespitzt werden kann es auf die Frage „Gibt es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen „Nazis“?“

Die Frage wirkt befremdlich und sie ist befremdlich. Sie erzeugte, als ich sie mir das erste Mal stellte, in mir folgende Reaktionen:

  • Unglauben,
  • Abwehr,
  • Unbehagen,
  • das Gefühl, mit etwas vollkommen lächerlichem konfrontiert zu sein.

Wie kommt man überhaupt auf so etwas absurdes?

Zum Hintergrund: das Phänomen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – kurz GmF – ist etwas, mit dem wir uns in unserem Institut immer wieder beschäftigen. In der Arbeit in Projekten (z.B. zur Fragen von Antisemitismus in der „Einwanderungsgesellschaft“, insbesondere in vermeintlich muslimisch geprägten Kontexten[1]), in Vorträgen (z.B. bei der letzten großen INTR°A Tagung im Dezember 2021[2]), bei der Begleitung von Dialoggruppen für und mit Bürger*innen und Schüler*innen in Kommunen[3], bei der Begleitung von Integrations- oder inklusiven Handlungskonzepten oder in Podiumsdiskussionen zu Stereotypen und Vorurteilen[4]. Auch in der alltäglichen Arbeit im Quartier stellen sich immer wieder Fragen, z.B. bei der Einbindung von marginalisierten Gruppen (wie z.B. in unserem letzten Newsletter berichtet[5]).

 

Was ist GmF?

„Als Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bezeichnen wir abwertende und ausgrenzende Einstellungen gegenüber Menschen aufgrund ihrer zugewiesenen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Eine in diesem Sinne menschenfeindliche Haltung kann sich auch in ausgrenzender oder sogar gewalttätiger Handlung zeigen oder Einfluss auf die Gestaltung von diskriminierenden Regeln und Prozessen in Institutionen und den Aufbau von diskriminierenden Strukturen haben.“[6] So definieren Beate Küpper und Andreas Zick, die beide seit Jahren zum Thema forschen und in diesem Zusammenhang u.a. für die Friedrich Ebert Stiftung in den sogenannte „Mitte-Studien“ rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in der deutschen Gesellschaft untersuchen[7], das Phänomen.

Dabei können sowohl Antisemitismus wie auch Sexismus, Homophobie, Antiziganismus oder aber Klassismus als Teil bzw. Artikulation des „Syndroms“[8] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verstanden werden. Kern des Syndroms ist eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“[9], ein Konzept, das bereits 2002 von Wilhelm Heitmeyer entwickelt wurde[10]. GmF wird dabei zum Syndrom, weil die verschiedenen Formen – Antisemitismus, Sexismus, Homophobie etc. – nicht nur einen gemeinsamen Kern haben, sondern sich darüber hinaus auch noch wechselseitig „befruchten“ und oder verstärken.

Für die „Täter*innen“ hat GmF den Effekt, bestehende soziale Hierarchien und damit einhergehende Ausgrenzungsmechanismen zu rechtfertigen, zu bestätigen, wieder- oder neu herzustellen. Für die Opfer von GmF sind die Folgen individuelle und strukturelle Ausgrenzung, Diskriminierung, Abwertung bis hin zur Verfolgung.

 

GmF – nein, doch, vielleicht?

Während all der Diskussionen, die Mitarbeiter*innen unseres Instituts oder auch ich selbst im Rahmen unserer oben angerissenen Tätigkeiten führen, begegnet uns das Thema GmF immer wieder und immer wieder auch konträr. Dabei gibt es teilweise heftige Auseinandersetzungen. Zu nennen ist beispielsweise die Debatte um „strukturelle Diskriminierung“, gerade im Rassismusbereich – „Gibt es überhaupt strukturellen Rassismus oder ist das nicht alles rein individuell?“ oder „Haben Sicherheitskräfte in Deutschland ein strukturelles Rassismusproblem?“ sind beliebte Fragen, die einen sowohl im direkten Gespräch wie auch in den verschiedensten Medien wieder und wieder begegnen, manchmal in ermüdender Form.

Eine andere Zielrichtung verfolgt die Frage, wer eigentlich Täter*innen bzw. Opfer von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind bzw. sein können. Auf einer Konferenz stellte ein Teilnehmer die Frage an mich, ob denn die Corona-Leugner*innen nicht in der Form diskriminiert würden, dass sie GmF ausgesetzt seien. Das führte zu einer heißen Diskussion. Ein paar Tage später verfolgte ich eine ähnliche Debatte auf Facebook (und dann stieß ich auf immer wieder neue Ableger).

 

Und jetzt zu den „Nazis“

Parallel dazu sah ich mir für die Arbeit mehrere Websites aus dem „neurechten“ Spektrum an und mir fiel – vermutlich durch die Diskussion um die Corona-Leugner*innen getriggert – auf, wie stark sich die dortigen Akteur*innen als „Opfer“ gezielter Verleugnung, Hetze und Abwertung sahen. Verfolgte von „Bevölkerungsaustausch“, Hass und Übergriffen.

Und mir schoss die Frage durch den Kopf: Können diese Menschen für sich in Anspruch nehmen, Opfer von Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu sein?

Meine unmittelbaren Reaktionen waren die oben dargestellten, Unglaube, Abwehr und der Eindruck, dass ich mich mit so etwas Lächerlichem gar nicht beschäftigen möchte. „Nazis“ als Opfer. Geht´s noch?

Aber über diese eher emotional geprägte Abwehr hinaus, ließ mir die Fragestellung keine Ruhe. Wenn (anscheinend) vernünftige Menschen mir auf einer Konferenz die Frage stellen, ob Corona-Leugner*innen (von denen eine durchaus nennenswerte Anzahl ja Kontakte zur neurechten Szene haben bzw. aus dieser stammen) Opfer von GmF sind, ist die Tür dann nicht schon offen für solche Fragen? Und wie reagiere ich dann darauf? Wie reagieren wir als Team, als Ibis Institut?

„Geht´s noch?“ ist dann weder eine besonders befriedigende noch eine besonders fachlich fundierte Antwort.

 

Rechts sein ist nur eine „Zuschreibung“?

Typisch für GmF ist, dass Menschen eine vermeintlich homogene Gruppe von „anderen“ bilden, deren Mitglieder dann bestimmte (negative) Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei wird zum einen niemand gefragt, ob er/ sie sich selbst dieser vermeintlichen Gruppe überhaupt zugehörig fühlt oder zugehörig sein möchte, noch wird von den „Erfinder*innen“ der Gruppe reflektiert, ob diese Eigenschaften überhaupt wirklich existieren bzw. den angehörigen der „fremden“ Gruppe zu Recht zugeschrieben werden. Zudem kommt die Person, die einer Gruppe zugeordnet wird, auch nicht mehr aus dieser Zuordnung hinaus, d.h., sie ist qua eines (angeblichen) Merkmals für immer in dieser Gruppe und wird diese nie verlassen können.

Ein „gutes“ Beispiel dafür ist rassistischer Antisemitismus in der NS-Zeit. Nicht-jüdische Menschen erklärten, wer Jude bzw. Jüdin sei, angeblich anhand „biologisch-rassischer“-Merkmale. Dabei war vollkommen egal, ob sich die Person selbst überhaupt als jüdisch empfand oder gar den jüdischen Glauben praktizierte. Es zählte alleine das erfundene Merkmal der „jüdischen Rasse“ anzugehören. Und seine/ ihre „Rasse“ kann dann natürlich niemand wechseln, man ist in sie hineingeboren.

Niemand, der sich auch nur ansatzweise mit Rechtsradikalismus, -populismus oder der „neuen Rechten“ beschäftigt, würden nun zum einen behaupten, dass diese „Szene“ eine homogene Gruppe ist. Es gibt viele Grüppchen, Parteien, Akteur*innen und Netzwerke, die z.T. kooperieren, sich z.T. jedoch auch spinnefeind sind.

Aber sogar, wenn verkürzt argumentiert wird mit „die Nazis“, „die Rechten“ – wenn also ein „homogenes“ Bild der rechten Szene existiert – werden dann willkürlich Menschen dieser Gruppe zugeordnet? Werden willkürlich Merkmale erfunden oder aus Zusammenhängen herausgerissen verallgemeinert und Dritten „überstülpt“, die diese Merkmal gar nicht haben?

Wenn jemand von „Umvolkung“ spricht, wenn Personen „Ethnopluralismus“ vertreten, wenn Menschen über „weltjüdische Verschwörungen“ philosophieren, wenn sie gegen Ausländer*innen und Schutzsuchende demonstrieren, wenn sie eine Unterkunft für Geflüchtete anzünden oder Menschen weil sie „fremd“ aussehen auf der Straße zusammentreten – dann kann wohl niemand behaupten, dass dies Äußerungen oder Verhaltensweisen nicht existieren. Oder dass diese Äußerungen nicht den Merkmalen von Ausländerfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus entsprechen. Dass da etwas von Dritten „übergestülpt“ wird, mit dem man selbst gar nichts zu tun hat.

 

Niemand muss „rechts“ bleiben

Zudem ist ein weiteres Merkmal von GmF, dass man sich nicht nur nicht aussuchen kann, dass man einer Gruppe zugeordnet wird, man kann diese auch nicht verlassen. Niemand, die oder der sich in der „neurechten Szene“ bewegt ist hierzu gezwungen. Ganz im Gegenteil, es gibt zahlreiche Präventions- und Ausstiegmöglichkeiten, um entweder gar nicht den Schritt in solche Gruppen, Parteien und Netzwerke zu tun oder den Weg wieder hinaus zu finden. „Neonazi“ ist bestimmt kein Stempel, den man oder frau nicht loswerden kann, wenn sie oder er sich im Kopf bewegt. Zahlreiche, zum Teil auch sehr mutige Ausstieger*innen haben das bewiesen.

Im rassistischen Antisemitismus kann sich niemand aussuchen, die „Gruppe der Juden und Jüd*innen“ zu verlassen, Schwule und Lesben sind ihr Leben lang schwul und lesbisch (und deswegen Opfer von Homophobie), Frauen wechseln auch zumeist nicht das Geschlecht und dürfen sich bis zum Tod die Welt von Männern erklären lassen. Aber niemand, wirklich niemand, ist gezwungen, an einem der Weltbilder aus der rechten Ideologie festzuhalten und Rassist*in zu sein.

 

Werden Rechte diskriminiert?

Nun können natürlich (neue) Rechte beklagen, dass sie diskriminiert werden, auch strukturell. Sie können dokumentieren, dass ihnen der deutsche Staat den Weg nicht leicht macht, unsere Demokratie abzuschaffen und unsere freiheitliche Grundordnung zu bekämpfen. Genauso könnte jedoch jede*r, die bzw. der delinquentes Verhalten zeigt beklagen, dass sie oder er strukturell diskriminiert wird, z.B. durch das Strafrecht. Es ist absurd zu sagen, man werde diskriminiert durch den Grundkonsenz unserer Gesellschaft, eine Demokratie zu sein, die die Rechtssicherheit und Freiheit ihrer Subjekte garantiert.

Allerdings ist nicht zu leugnen, dass es Sanktionen gibt, dass es zu Ausgrenzung kommt oder aber, dass es eine moralische Abwertung gibt. Diese lässt sich vielleicht ganz banal darin zusammenfassen, dass ein Großteil der Bürger*innen in unserem Land sagen würde, dass „Nazi sein nichts gutes und erstrebenswertes ist.“ Und niemand möchte eine*n neue*n (oder alten) Rechte*n als Nachbar*in, auch das ist klar eine Ausgrenzung.

 

Ideologie der Ungleichwertigkeit

Allerdings kann hieraus noch nicht einmal abgeleitet werden, dass es eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ gibt. Denn durch die Zuordnung „Du bist rechts“ wird nichts über den grundsätzlich menschlich Status ausgesagt. Kurz gesagt, bei Rassismus, Homophobie, Sexismus oder Klassismus wird den Betroffenen ihre Menschlichkeit entweder ganz abgesprochen oder sie sind (für immer wohlgemerkt, ohne Wahl ihrerseits) Menschen zweiter Klasse. Aber wer spricht denjenigen, die sich in der neurechten Szene tummeln ihre grundsätzliche Menschlichkeit ab? Vielleicht eine Minderheit, die in dem Eifer, etwas gegen Faschismus, Neonazismus und rechtes Gedankengut tun zu wollen auch soweit gehen würden. Aber die Mehrheit unserer Gesellschaft, die meisten Bürger*innen, die Institutionen unseres Staates? Niemand spricht da Menschen aus der neurechten Szene ihre Menschlichkeit ab. Ihre Einstellungen und ihre Verhaltensweisen werden hinterfragt und angeprangert. Aber nicht ihr Grundrecht, als Menschen behandelt und gesehen zu werden.

Tatsächlich ist dies vielleicht sogar der entscheidende Punkt, an dem sich diejenigen, die sich gegen rechtes Gedankengut und dessen Vertreter*innen stellen, messen lassen müssen: Was ihr denkt, sagt und macht ist falsch, aber euer Menschsein, eure grundlegende Gleichwertigkeit als Mensch, das wird nie zur Debatte stehen.

 

Fazit

In der internen Diskussion im Team und auch während meiner eigenen Reflektionen wurde mir schnell deutlich, dass es eigentlich Nebelkerze sind, wenn Menschen ernsthaft diskutieren, ob Coronaleugner*innen oder „neue Rechte“ GmF ausgesetzt sind. Wie im Text angedeutet könnte ebenso gefragt werden, ob Salafist*innen, Angehörige der Moon-Sekte oder Anhänger*innen der QAnon-Verschwörungstheorie Opfer von GmF sind, weil sie im gesellschaftlichen Diskurs Gegenwind erfahren oder sogar auf Grund ihrer Aktivitäten strafrechtlich verfolgt werden.

Nichtsdestotrotz zeigt die Erfahrung, dass solche Gruppierungen Narrative und Theorien für sich zu eigen machen und versuchen, diese für eigene Positionen und deren Wahrnehmung nutzbar zu machen, um Sagbarkeitsräume zu erweitern oder aber das Gegenüber in Scheindebatten zu verwickeln.

In einer Gesellschaft, in der ein freiheitlich demokratischer Grundkonsens hinterfragt wird, in der Opfer-Täter-Umkehr an der Tagesordnung steht und Akteur*innen aus dem neurechten Spektrum speziell geschult werden, um sich Begriffe anzueignen und Fakten zu ihren Gunsten zu verdrehen, ist es vielleicht tatsächlich soweit, dass erklärt werden muss, warum Nazis keine Opfer von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sein können.

Einerseits ist dies bestimmt erschreckend für alle, die (wie ich) automatisch gedacht haben „Muss das jetzt echt erklärt werden? Geht da jetzt hier echt an den Start, Leute?“

Andererseits ist es aber wenig hilfreich, sich keine Gedanken darüber zu machen, wie man in einer Diskussion – analog oder virtuell – auf (krude) Ideen reagiert, nur weil man instinktiv denkt, dass bestimmte Tatsachen offensichtlich sind.

Abschließend lassen sich bestimmt noch mehr Ansätze dafür finden, warum die neuen Rechten  in unserem Land keiner GmF ausgesetzt sind, als in diesem Text grob angerissen wurden. Aber vielleicht ist das immerhin ein Startpunkt für die eigene Auseinandersetzung.

 

 

 

 

 

[1] https://lib-ev.de/extreme-out-empowerment-statt-antisemitismus/

[2] https://interrel.de/gleichheit-und-gleichwertigkeit-anerkennen-intra-tagung-2021

[3] https://www.bedburg-lebt-demokratie.de/allgemein/januar-aktionen-fuer-toleranz-und-gegen-antisemitismus/

[4] https://www.landkreis-northeim.de/portal/meldungen/-schubladenkacke-lesung-und-podiumsdiskussion-zu-stereotypen-und-vorurteilen-900004073-23900.html?rubrik=900000027

[5] https://ibis-institut.de/2650-2/

[6] https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/

[7] https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/publikationen/studien/gutachten

[8] Unter Syndrom werden dabei eine Ballung von abwertenden und ausgrenzenden Einstellungen (wie z.B. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus etc.) verstanden, die in einem Zusammenhang stehen, da ihnen bestimmte Merkmale, Methoden, Inhalte und Ziele gemeinsam sind und diese sich zudem wechselseitig befruchten bzw. verstärken (können).

[9] https://www.boell.de/sites/default/files/201605_ideologien_der_ungleichwertigkeit.pdf

[10] Heitmeyer, Wilhelm (Hg., 2002-2011): Deutsche Zustände. Folge 1-10.

 

Autorin: Patricia Jessen/ März 2022

Bild: https://dubisthalle.de/time-to-say-goodbye-rechtsextreme-identitaere-bewegung-gibt-hausprojekt-auf