Seit Monaten werden die Schüler*innen zu Hause unterrichtet. Die Lehrer*innen, die sonst direkt mit dem Kind in der Schule arbeiten können und auch die Klassengemeinschaft, die einander trägt, gibt es vermehrt nur noch digital oder via Arbeitsblatt. Die Inhalte werden oftmals auf die Mindestmenge, die die Bildungspläne vorgeben reduziert. 

Viel Verantwortung liegt jetzt bei der Familie oder dem engeren Umfeld eines Kindes. Dies führt dazu, dass dieses Umfeld und die Ressourcen, die darin gegeben sind, einen stärkeren Einfluss haben als im Regelunterricht, vor Corona. 

 

Pierre Bourdieu hat in seiner Ungleichheitstheorie verschiedene Kapitalsorten unterschieden, mit denen ein Mensch qua Geburt ausgestattet ist: dem ökonomischen, dem kulturellen, dem sozialen und dem symbolischen Kapital. 

Das ökonomische Kapital  besteht aus materiellen Dingen, wie Geld und Besitztümer bzw. alles, was direkt wieder in Geld umsetzbar ist. 

Das kulturelle Kapital umfasst Wissen, Fähigkeiten, Bildung und Kompetenzen, aber auch Bildungsgüter wie Bücher, Computer oder vorhandene Lernmaterialien und erworbene Abschlüsse und Bildungstitel. 

Das soziale Kapital ist das Netzwerk eines Menschen, das mobilisiert werden kann, also Ressourcen, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie/Gruppe/Community mit sich bringen und dadurch Vorteile und Unterstützung in bestimmten Bereichen verschaffen. 

Das symbolische Kapital ist etwas übergeordnet und verdeutlicht, dass das Zeigen der anderen Kapitalsorten wiederum zu Anerkennung führt und dadurch weiter wirkt. Der Doktortitel auf dem veröffentlichten Buch beispielsweise vermittelt den Anschein guter Qualität; der Sportwagen symbolisiert ein hohes ökonomisches Kapital. 

Vergleicht man nun die Situation von Schüler*innen im „normalen“ Schulalltag und während der Corona-Pandemie wird schnell deutlich, warum die genannten Kapitalsorten nun mehr Einfluss haben.

Zwar ist auch im Regelbetrieb der Schulen vorhandne Bildung durch das Elternhaus ein Faktor für Schulerfolg und die Ausstattung mit Materialien zuhause erhöht die Möglichkeiten, sich die Schulinhalte besser anzueignen, aber während der Zeit in der Schule werden die Rahmenbedingungen dennoch weitgehend gleich gehalten unter den Schüler*innen. Aktuell sind die Schüler*innen jedoch komplett dem Umfeld und den dort vorhandenen Kapitalien ausgeliefert: 

 

Ökonomisches Kapital:

Gibt es ausreichend Stifte, Hefte, Papier und weiteres Zubehör, um das Lernen ordentlich zu gestalten? Gibt es einen Drucker, zum Ausdrucken von Arbeitsblättern? Gibt es Hardware zum Arbeiten, die dem Kind zur Verfügung stehen? Ist ein Internetanschluss vorhanden?

 

Kulturelles Kapital:

Gibt es zuhause Laptops, Tablets, PCs, die den Kindern zur verfügung gestellt werden können? Ist ein Drucker vorhanden, um Arbeitsblätter auszudrucken? Sind Bücher im Haus wie etwa Lexika, in denen man etwas nachschauen kann? Hat das Kind genügend Vorwissen, um im Lernstoff mitzukommen? Versteht das Kind die Aufgaben (sprachlich, inhaltlich)? Ist das Kind in der Lage, selbstständig zu lernen und sich auch neue Inhalte anzueignen?

 

Soziales Kapital: 

Gibt es in der Familie oder im näheren Umfeld Personen, die das Kind unterstützen können? Können die Eltern Arbeitsblätter, Rechenwege und Inhalte erklären? Verstehen sie die Inhalte selbst (Fremdsprachen, höhere Mathematik)? Gibt es Familienangehörige, die es verstehen, wie man einen Alltag strukturiert und ggf. mit dem Kind einen Arbeitsplan erstellen? Besteht ein Kontakt zwischen Familie und Lehrer*in, um Nachfragen zu klären oder Rückmeldungen zu geben, wenn irgendetwas nicht verstanden wird? Sind Menschen da, die bei fehlender Motivation genügend animieren können, um darzustellen, wie wichtig Bildung ist und dass es sich lohnt weiterzulernen, auch wenn es aktuell anstrengend ist? Können die Bezugspersonen einschätzen, ob der Lernstand des Kindes altersentsprechend ist und das Lernziel der Klasse erreicht wird? 

All diese Aspekte und noch viele mehr, sind von Kind zu Kind unterschiedlich und beeinflussen maßgeblich den Erfolg von Homeschooling bzw. digitalem Lernen und führt dazu, dass einige Kinder genauso gut weiterkommen wie sonst oder auf der Strecke bleiben. 

 

Die Lehrkräfte können dem wenig entgegensetzen. Insbesondere bei den kleineren Schüler*innen funktioniert es nicht ohne das Umfeld. Die dort vorhandenen Kapitalien entscheiden, selbst wenn die Arbeitsblätter noch so gut vorbereitet sind und es eine gute Erklärung auch für die Eltern gibt. Nur die Präsenz in der Schule, bei der die Fachkräfte vor Ort, sowohl den Lernstand als auch die psychische Verfassung der Kinder einschätzen können, wo jede Nachfrage geklärt werden kann und auch individuell unterstützt werden kann, besteht die Möglichkeit, dieser Verstärkung der Ungleichheit zu begegnen. Da dies aber nun über ein Jahr lang praktisch nicht stattgefunden hat, gilt es zukünftig, die zunehmende Spaltung zwischen den Schüler*innen wieder etwas zu verringern. Förderangebote, Unterstützungsmaßnahmen, Umstrukturierungen des Unterrichts, um individueller zu beschulen aber auch die Ausstattung von Schüler*innen mit Materialien für zuhause, um zumindest den Zugang zu erleichtern, sollten jetzt angefacht werden und nicht erst, wenn alle Schüler*innen wieder täglich zur Schule gehen dürfen. Auch die Förderung von Elternbildung sollte nun endlich angegangen werden, denn jetzt sollte es allen bewusst sein, dass viel an ihnen liegt. 

Autorin: Stephanie Schoenen/ Juni 2021