„Seit Juli (…) hat es keine fünf Tage gegeben, an dem das Asylthema nicht in den Medien behandelt worden wäre. Was wunder, wenn das „Volk“ glauben muß, es sei das wichtigste Thema dieser Republik und in den Flüchtlingen läge die Bedrohung unseres Staates.“

Wenn Sie denken, dass das Zitat die aktuelle Diskussion um Zuwanderung in Deutschland treffend umschreibt, muss ich Sie enttäuschen – es ist über 30 Jahre alt und stammt aus einer Rede von Herbert Leuninger, Sprecher von PRO ASYL, die er bei einer Großdemonstration gegen die Änderung des Asylrechts im November 1992 gehalten hat. 

Doch erschreckend ist, wie zeitlos seine Worte klingen. Auch heute ist das Thema omnipräsent. Dabei ist die Debatte angstgetrieben und Zuwanderung wird fast ausschließlich als Problem dargestellt. Dass dies nicht ohne Folgen bleibt, zeigt eine aktuelle Umfrage von Infratest dimap: Mit 48% sieht jede*r zweite Bundesbürger*in Zuwanderung und Flucht als das größte Problem für Deutschland an (vgl. Statista 2024).

Diese Dramatik hat jedoch keine neue Dimension: Bereits seit Jahrzehnten wird die Debatte um Migration in Deutschland auf ähnliche Weise geführt. Schon in den 90ern hieß es: „Das Boot ist voll“. 2018 hat der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer die Migrationsfrage bereits als „Mutter aller politischen Probleme“ in Deutschland bezeichnet. Spätestens nach dem Messerangriff in Solingen und den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat die Debatte erneut rasant an Fahrt aufgenommen und es scheint, als stünde Deutschland (wieder einmal) kurz davor, durch die vermeintliche Überlastung durch Zuwanderung zu kollabieren.

Migration als Sündenbock

Vor allem der CDU-Chef und künftige Kanzlerkandidat Friedrich Merz greift diese alarmistische Rhetorik häufig und gerne auf. In einer seiner jüngsten Reden heißt es:

„Seht euch die Schulen an, schaut euch die Wohnraumsituation an, schaut euch die Universitäten an, schaut euch die Krankenhäuser an, schaut euch die Arztpraxen an, schaut euch an, was das für Konsequenzen hat, wenn ein Land durch Migration überfordert wird.“ 

Bereits ein kurzer Faktencheck würde verdeutlichen, dass diese Probleme u.a. auf jahrelangen Investitionsstau, Fachkräftemangel und eine alternde Bevölkerung zurückgeführt werden können. Migration verschärft die bestehenden Herausforderungen lediglich bzw. macht sie noch sichtbarer. 

Was nach Aussagen wie der oben zitierten entgegen aller Fakten jedoch bleibt, ist das Bild, dass Migration die Ursache für die Probleme in unserem Land ist. Damit ist der Sündenbock, der von den eigentlichen strukturellen Herausforderungen und den Verfehlungen vorheriger und derzeitiger Regierungen ablenkt, gefunden. Um die Probleme zu „lösen“ kommt — scheinbar folgerichtig — nur eine Möglichkeit in Frage: Die Begrenzung von Migration nach Deutschland.

Dabei sind die Lehren aus den 90ern eindeutig: Populistische Forderungen bringen keine nachhaltigen Lösungen. Der sogenannte Asylkompromiss von 1993, der das Grundrecht auf Asyl in Deutschland stark einschränkte, mag kurzfristig die Zahl der Asylanträge gesenkt haben. Doch die globalen Fluchtursachen – Krieg, Armut und Verfolgung – blieben bestehen. Heute wiederholt sich dieser Fehler: Erneut wird vor allem auf Symbolpolitik gesetzt. So reagiert die Bundesregierung nach den jüngsten Ereignissen mit Sofortmaßnahmen wie der Wiedereinführung von Kontrollen an allen deutschen Außengrenzen. Die aktuellen Debatten und Maßnahmen sind lediglich Symptome eines Versuchs, schnelle Antworten auf komplexe Fragen zu finden und die Illusion von Handlungsfähigkeit zu erzeugen. 

Die Gefahren der populistischen Rhetorik und der Verschiebung des Diskurses

Doch was passiert, wenn etablierte Parteien wie die CDU die populistische Rhetorik von rechten Parteien wie der AFD übernehmen? Die Hoffnung scheint offensichtlich darin zu bestehen, Wähler*innenstimmen von der AfD zurückzugewinnen, indem die Ängste der Bevölkerung scheinbar ernst genommen werden und mit Aktionismus darauf reagiert wird. Studien zeigen jedoch, dass diese Rechnung nicht aufgeht und die Übernahme rechter Positionen durch Parteien der Mitte sogar zu einer Stärkung des rechten Milieus führen kann (vgl. Krause, Cohen, Abou-Chadi 2022).

Aktuell verschiebt sich der Diskurs über Migration gefährlich nach rechts. Positionen, die einst als radikal oder unsagbar galten, werden zunehmend salonfähig. Das schafft einen Raum, in dem rechtsextreme und fremdenfeindliche Gedanken nicht nur normalisiert, sondern auch politisch legitimiert werden. Was früher als unannehmbar galt, wird nun Teil der politischen Debatte, und die Grenze des Sagbaren verschiebt sich immer weiter.

Das Gefährliche daran, wenn etablierte Parteien rechte Narrative übernehmen, ist nicht nur die kurzfristige Stärkung radikaler Kräfte wie der AfD, sondern auch die langfristige Zersetzung des politischen und gesellschaftlichen Klimas. Wenn rechte Positionen zur Norm werden, wächst die Akzeptanz für menschenfeindliche Einstellungen. Die Folge ist, dass Menschenfeindlichkeit und Rassismus immer weniger tabuisiert und immer häufiger als legitime Meinung angesehen werden. Dies hat nicht nur politische, sondern auch reale Konsequenzen: Diskriminierung und Gewalt gegenüber Minderheiten nehmen zu – denn auf Worte folgen Taten.

Bereits in den 90er Jahren war dieses Phänomen zu beobachten. Rechte Parteien wie die Republikaner nutzten damals gezielt die Angst vor Überfremdung, um Wähler*innen zu gewinnen. Die etablierten Parteien übernahmen Teile dieser Rhetorik, in der Hoffnung, die öffentliche Meinung zu beruhigen und Wähler*innen zurückzugewinnen. Doch das Ergebnis war verheerend: Der politische Raum verschob sich nach rechts, und die rassistische Gewalt nahm zu. Der Asylkompromiss löste die Probleme nicht – im Gegenteil. Nur wenige Tage nach der Änderung des Artikel 16 im Grundgesetz starben fünf Menschen bei einem rassistischen Brandanschlag auf ein Haus in Solingen. Dies verdeutlicht, dass die politische Instrumentalisierung des Asylrechts ein fataler Fehler war, der rechte Gewalt nicht eingedämmt, sondern indirekt sogar legitimiert und begünstigt hat.

Prinzipien und Haltung statt Populismus

Politiker*innen und Medienschaffende müssen daher reflektieren, wie sie das Thema Zuwanderung kommunizieren. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Migration erfordert eine sachliche und differenzierte Debatte, die frei von Panikmache ist – ansonsten werden Ängste in der Bevölkerung nur weiter geschürt und das gesellschaftliche Miteinander gefährdet. Es bedarf einer Rückbesinnung auf grundlegende Prinzipien wie Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit. Parteien sollten Haltung zeigen und unmissverständlich signalisieren, dass sie an den Prinzipien des Grundrechts auf Asyl festhalten und dieses nicht in Frage stellen. Angela Merkel hat 2015 mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ eine solche Haltung verkörpert. Die gegenwärtige Politik jedoch agiert – um es in den Worten der Journalistin Gilda Sahebi zu beschreiben – wie ein „aufgescheuchter Hühnerhaufen“ und festigt damit das Narrativ der Überforderung.

 

Quellen:

Krause W, Cohen D, Abou-Chadi T (2023). Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties. Political Science Research and Methods 11, 172–179. https://doi.org/10.1017/psrm.2022.8

 

Statista 2024: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28353/umfrage/wichtigste-von-der-politik-zu-loesende-probleme-in-deutschland/

Autorin: Patricia Jessen/ Oktober 2024

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