Bei der Suche nach einer neuen Wohnung im innerstädtischen Raum steht meistens sehr schnell fest, ins welches Stadtviertel es gehen soll. Neben den Mietpreisen vor Ort und der Größe und Ausstattung der Wohnung zählt vor allem das Wohnumfeld als wichtige Entscheidungsgrundlage. Neben nahegelegenen Einkaufsmöglichkeiten und – bei Familien auch Bildungseinrichtungen – spielt ein attraktives Lebensumfeld die entscheidende Rolle. Dies hängt vom Image des Stadtteils, der optischen Attraktivität der Straßenzüge und anliegender Geschäfte sowie dem gebotenen kulturellen Angebot ab. „Die Debatte um Kunst und Kultur als Standortfaktoren ist schon lange keine neue mehr. Seit mehr als einem Jahrzehnt geführt, ist sie heute fester Bestandteil eines internationalen Diskurses um Stadtentwicklung, Kulturpolitik und Wirtschaftsförderung. Im Mittelpunkt stehen die der Kunst und Kultur attestierten katalysatorischen Fähigkeiten zur Gestaltung eines vitalen, „lebenswerten“ Standortes.“ (IBA, Kunst und Stadtentwicklung)

Attraktive Stadtteile leben von Kunst und Kultur und gerade diese sind es, die einzelne Stadtteile voranbringen und es schaffen, aus Problemvierteln und Brennpunkten lebenswerte Viertel zu machen, die dann wiederum viele Menschen anziehen. Beispiele gibt es in vielen Ländern, je innerhalb größerer Städte (z.B. SoHo in New York, Notting Hill in London oder Kreuzberg in Berlin). 

Der Ablauf ist im Prinzip immer derselbe (vgl. bpb, Gentrifizierung: Ursachen, Formen und Folgen) und wurde und er Soziologie insbesondere in den 90er Jahren u.a. von Blasius, Dangschat oder Friedrichs beschrieben: Problemviertel bestehen aus leerenden Ladenlokalen und Wohnimmobilien. Es wird wenig investiert, sodass Gebäude zerfallen, die Mietpreise sinken, das Engagement der Anwohner*innen und Eigentümer*innen ist insgesamt gering. Der Ruf des Viertels ist nicht mehr sehr gut. Die niedrigen Preise und die Nähe zur Innenstadt locken jedoch vor allem junge und kreative Menschen an. Die so genannten Pioniere kommen ist Viertel. Sie verfügen nicht über genügend ökonomisches Kapital um in besseren Stadtteilen zu wohnen, schätzen jedoch den Charme der alten Gebäude und die Geschichte des Stadtteils (oft Arbeiterviertel, ansässige leerstehende Fabriken und Erinnerungen an frühere Zeiten, in denen das Viertel noch pulsierte). Diese Künstler*innen und Kulturschaffenden, haben jedoch zwar wenig Geld, aber dafür ein hohes kulturelles Kapital (Bildung, Kreativität) und soziales Kapital (Beziehungen, Netzwerke), sodass sie wichtige Eigenschaften mitbringen, um das Viertel voran zu treiben. Genau das tun sie dann auch. Sie nutzen Räume um, verschönern oft mit Street Art oder anderen urbanen Kunststilen den Stadtteil und gestalten diesen mit geringen Mitteln attraktiver. 

Hierdurch steigt das Image, mehr Menschen möchten dort leben und es werden einkommensstärkere Gruppen (Gentrifier) angezogen, die dann wiederum günstig Immobilien mieten oder kaufen, in Sanierungen investieren und Kaufkraft ins Viertel bringen. Ab diesem Punkt steigen die Miet- und Kaufpreise an und die Attraktivität sowie das Image des Standortes steigt weiter. Nach und nach passiert es jedoch, dass die Pioniere und andere einkommensschwache Gruppen verdrängt werden, sodass die soziale Mischung im Viertel mit der Zeit abnimmt und das Viertel zu einem hoch angesehenen Viertel für reichere Milieus wird. 

Doch warum schaffen es Künstler*innen und Kulturschaffende, diesen Hebel in Bewegung zu setzen, sodass mittlerweile sogar die Fachbereiche für Stadtentwicklung der Kommunen diese Gruppen nutzen, um gezielt Viertel voran zu treiben und Sanierungsprozesse gemeinsam mit diesen Gruppen in gang zu setzen? 

Die Zusammensetzung des Kapitals wie eben beschrieben (Einteilung nach Pierre Bourdieu) gibt bereits einen Hinweis dazu: Die hohe Bildung der Pioniere, die Netzwerke sowie sozialeBindungen, die sie haben, ermöglichen ihnen an sich den Zugang zu allen möglichen Bereichen in der Stadt aber auch in Institutionen. Was sie hinderten sich dort anzusiedeln ist häufig das Geld. Man spricht nicht umsonst von „brotloser Kunst“, denn nur wenigen Künstler*innen und Kulturschaffenden gelingt es, über diese Tätigkeit ein hohes Gehalt zu erzielen. Demnach bleibt ihnen nur begrenzter Wohnraum zur Verfügung. Aufgrund ihres kulturellen Kapitals, das ein ganz besonderes ist, schaffen sie es jedoch selten sich mit dieser Notsituation abzufinden. 

Künstler*innen und Kulturschaffende haben die Fähigkeit, im Mangel eine Möglichkeit zu sehen und in Makeln des Viertels, etwas, das man neu erfinden und entwickeln kann. Diese Fähigkeit des Perspektivwechsels ist der Kunst inhärent. Das ist es doch, was vor allem moderne Kunst ausmacht: die Dinge anders zu sehen, anders zu nutzen, als das für was sie gemacht sind. Kreative Menschen werden häufig als Querdenker bezeichnet. In der Neurowissenschaft gilt das kreative Denken als stärker von der rechten Gehirnhälfte beeinflusst als von der linken analytischen, stark strukturiert Denkenden. Es ist stärker spontan und experimentell und weniger auf das Ergebnis fokussiert. (Im Kopf des Künstlers)

Künstler*innen und Kulturschaffende haben demnach die Fähigkeit im Leerstand, Potenziale für neue Geschäfte oder Umnutzungen zu sehen. Sie schaffen es, zerfallenen Fassaden etwas abzugewinnen und sehen Möglichkeiten, diese mit geringen Mitteln attraktiv zu gestalten. Sie finden sich nicht damit ab, dass Brachflächen im Stadtteil vorhanden sind, sondern nutzen diese für urbane Gärten, als Ausstellungsfläche oder für Performances und Lesungen. An den Stellen, an denen „Nicht-Kreative“ resignieren, da sie das Negative sehen und sich aufregen über die Entwicklung des Viertels, schaffen es die Kreativen eine Hoffnung zu entwickeln und eine Perspektive, wie man aus der Krise herauskommen kann. Auch die Corona-Pandemie zeigt diese Fähigkeit in vielen Städten sehr eindrücklich. 

Des Weiteren sind Künstler*innen dazu geneigt, sich mit verschiedenen Materialien auseinander zu setzen, deren Stärken zu nutzen und dabei oft bewusst zu provozieren, indem sie Mittel nutzen, wie sie nicht nach Lehrbuch genutzt werden sollen (Kunstwerke aus Plastikabfall und Trödel; Skulpturen, die das Auge des Betrachters aufgrund von Größe und Farbe vollkommen irritieren usw.). Auch dies ermöglicht ihnen in Vierteln, in denen es viele vermeintlich hässliche Ecken gibt, das Schöne zu finden oder etwas Schönes daraus zu machen. Neben dieser kreativen Seite von Kunst und Kultur gibt es aber einen weiteren Aspekt, der damit verbunden ist: Kunst und Kultur sind integrativ. Das, was die Künstle*innen mit Leerständen und Brachflächen schaffen, schaffen sie meist auch mit anderen Menschen: sie sind offen gegenüber Andersartigkeit. Demnach ist die Kunstszene selbst sehr von Diversität geprägt und ist offen für Menschen, die in gewisser Weise bewusst oder unbewusst von der Norm abweichen. Multikulturalität ist kein Grund, ein Viertel zu meiden, Toleranz gegenüber Kulturen, Geschlechteridentitäten und verschiedenen Lebensstilen ist in der Regel gegeben. Das ermöglicht ihnen, in den prekären Vierteln zu leben und sie nicht von Beginn an abzulehnen, wie vielleicht stärker etablierte Gruppen dies aufgrund von Vorurteilen oder Stereotypen tun würden. Kunst „stiftet Identität und Zugehörigkeit, sie eint die Menschen, aber stellt auch sicher, dass Diversität sich ausdrücken kann. Sie fördert Toleranz, Verständigung und Partizipation und hilft Geschlechterungerechtigkeit zu überwinden.“ (Süddeutsche, Geld ist nicht alles). Auch ihre Werke selbst sorgen immer wieder für Austausch, Gespräch und Dialog. Sie regen dazu an, sich Gedanken über etwas zu machen und animieren, Dinge anders zu sehen oder zu überdenken, zu reflektieren. 

All diese Eigenschaften der Kreativen sind es, die es ermöglichen, dass sie die Pioniere der Stadtentwicklung sind und sich nicht mit dem Verfall der Innenstädte o.ä. abfinden. Sie sind dadurch eigentlich ein Vorbild für alle anderen Anwohner*innen, die das Engagement für ihr Viertel verlieren und die sich lieber in alten Erinnerungen an goldene Zeiten verlieren, anstatt etwas Neues auszuprobieren und Räume neu zu entwickeln. Sie lassen sich nicht begrenzen durch Regelungen, wie etwas zu sein hat oder zu machen sei. Sie versuchen, auf (Denk-)Barrieren und Grenzen der Machbarkeit zu verzichten, um nicht aufhören zu müssen, bevor sie begonnen haben. Nur so, werden sie zum Motor der Gentrifizierung. 

Städte und Kommunen müssen es nun nur schaffen, dass sie eine Kommunikation zwischen diesem Denkmuster und ihrem eigenen stark bürokratischen, analytischen und strukturierten Denken hinbekommen und zwischen Stadtplanern*innen? und der Szene vermitteln können. Dann können sie gemeinsam gute Entwicklungen schaffen. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass die letzte Stufe der Gentrifizierung die Pioniere oftmals vertreibt. Ob das legitim ist und wie man dem entgegenwirken kann,darüber sollten Städte und Kommunen ebenfalls noch nachdenken. 

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Autorin: Stephanie Schoenen/ Dezember 2020

Bilder: Stephanie Schoenen