Identität und Differenz
Die Frage danach, was Identität ist bzw. wie diese entsteht, beschäftigt seit jeher zahlreiche Wissenschaften wie die Psychologie, die Philosophie und die Sozialwissenschaften. Mittlerweile ist man sich weitestgehend einig, dass es sich bei Identität um ein Konstrukt – also um etwas Hergestelltes und damit wieder Veränderbares oder Auflösbares– handelt.[1] Auch der postkoloniale Theoretiker und Vertreter der Cultural Studies, Stuart Hall, fordert dazu auf, sich von einem essentialistischen Identitätsbegriff als „stabilen, inneren Kern des Selbst“ zu lösen. Ihm zufolge können Identitäten nicht aus sich selbst heraus, sondern nur auf der Grundlage von Differenz – also über die Beziehung zu einem ‚Anderen’ – konstituiert werden. „Nur wenn es einen Anderen gibt, kannst du wissen, wer du bist“, so Hall.[2]Bei Identität handele es sich um einen dynamischen Prozess der Herausbildung, der nicht abschließbar sei. Zudem könne die Identität eines Individuums aus mehreren, sich manchmal widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammensetzen.[3] Denn die zentrale Bedeutung der Differenz zum ‚Anderen’, bzw. zum konstitutiven Außen impliziert, dass Identität vielschichtig ist und stets in Abhängigkeit des jeweiligen Kontextes konstruiert wird.
Kontextabhängigkeit und Widersprüchlichkeit von Identität
Je nach Situation kann also eine andere Facette von Identität ‚aktiviert’ werden und in den Vordergrund treten. Wie genau das aussehen kann, beschreibt der Historiker Philipp Sarasin am Beispiel von nationaler Identität. So könne sich eine Person mit deutscher Nationalität durch viele Selbstbezeichnungen beschreiben: „Ich bin Arbeiter und Katholik und ein Mann und Untertan und Deutscher und Sozialdemokrat (…) während mein Kumpel Protestant ist und Kaninchenzüchter und (…)“[4]. Das ‚Deutsch- Sein’ ist in diesem Fall nur eines von vielen Gliedern in einer Kette von Identitäsmerkmalen. Weiter schreibt Sarasin: „Wenn ich mein Land gegen die Franzosen verteidige, bin ich nur Deutscher“. Das ‚Deutsch-Sein’ erhält nun eine privilegierte Funktion, indem etwas ‚Nicht-Deutsches’ zum relevanten Bezugspunkt wird. So erzeugt die Präsenz des „Dritten“ als das signifikante Andere eine starke Identitätsbehauptung, die alle interne Differenz innerhalb der Gruppe der ‚Deutschen’ absorbiert. Gleichzeitig wird die Eigengruppe, zu der man sich in diesem Kontext zugehörig fühlt, auf- und die Fremdgruppe abgewertet. Besonders häufig geschieht dies in Minderheiten-, Konkurrenz- oder Konfliktsituationen[5]. Interessant ist auch, dass die Identifikationen je nach Situation unterschiedlich ausfallen und sich zum Teil auch widersprechen können, wie folgendes Beispiel zeigt:
„Man mag sich z.B. normalerweise als Kurde oder Kurdin in Deutschland fühlen, sobald aber die türkische gegen die deutsche Nationalmannschaft spielt, ist die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit durchaus groß, sich mit der türkischen Mannschaft zu identifizieren, auch wenn man in anderen Kontexten eher auf eine kurdische Identität in Abgrenzung zur türkischen Nationalität beharrt“.[6]
Es lässt sich also festhalten, dass jede identitätsbezogene Reflexion eines Individuums im Rahmen bestimmter sozialer Verortungen und somit nie in leeren Räumen erfolgt. Identität kann nie unabhängig vom sozialen Kontext, in dem sich Individuen in Differenz (oder Gleichheit) zu Anderen verorten, gedacht werden.
Soziale Zugehörigkeit und die Macht der Fremdzuschreibung
Auch der Bildungswissenschaftler Paul Mecheril setzt sich intensiv mit Identität und Zugehörigkeit auseinander. In seiner Arbeit „Prekäre Verhältnisse“ geht er der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen Individuen sich selbst als einem Kontext zugehörig verstehen und (an)erkennen bzw. von anderen als zugehörig verstanden und (an)erkannt werden. Nach Mecheril realisiert sich Zugehörigkeit stets im Zusammenspiel von Selbst- und Fremdzuordnungen.[7]Besonders wirkmächtig würde sich dabei die Fremdperspektive – also die Anerkennung oder Nichtanerkennung als Mitglied durch Andere – erweisen. So Mecheril:
„Die prinzipielle Bedingung dessen, dass es mir möglich ist, mich als Mitglied eines Kontextes zu verstehen, besteht darin, dass ich von generalisierten und konkreten Anderen als Mitglied erkannt werde. Wer grundsätzlich damit konfrontiert ist, von Anderen als Nicht-Mitglied eines Kontextes betrachtet zu werden, kann nur unter bestimmten Voraussetzungen – etwa der, die konkrete soziale Situation renitent oder verrückt nicht als gültige Realität zu akzeptieren – an dem Verständnis festhalten, Mitglied zu sein.“[8]
Soziale Zugehörigkeit – und damit auch die Bildung der eigenen Identität – kann also nur eingeschränkt als eine Frage der freien Entscheidung oder des Wahlverhaltens von Individuen verstanden werden. Die (Nicht-)Zugehörigkeit Einzelner ist durch Verhältnisse der Macht konstituiert, da die Fremderkennung der Selbsterkennung inhaltlich vorgelagert ist.
Hiermit kommen wir schließlich zu einem typischen Element von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: Betroffene können sich nicht nur nicht aussuchen, ob sie einer Gruppe zugeordnet werden, sie können diese auch nicht verlassen. Dank bestehender Hierarchien ist die Fremdzuschreibung statushöherer Gruppen ausschlaggebender als die Frage, ob die Betroffenen sich einer vermeintlichen Gruppe überhaupt (nicht-)zugehörig fühlen oder (nicht-)zugehörig sein möchten.
Einfluss von GMF auf die Identitätskonstruktion von Betroffenen
An dieser Stelle wird deutlich, dass Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einen maßgeblichen Einfluss auf die Identitätsbildung – nicht nur von den sie ausübenden Personen, sondern auch von Betroffenen – haben kann. Während „Täter*innen“ aus ihrer Machtposition heraus die Zuweisung von Menschen zu bestimmten sozialen Gruppen nutzen, um ihre eigene Identität in Abgrenzung zu den „Anderen“ zu konstruieren und ihre Machtposition zu stabilisieren, wird die Deutungshoheit der Betroffenen stark eingeschränkt.
Eine mögliche Folge ist das Phänomen der „self-fulfilling prophecy“. So kann eine Reaktion der durch Fremdzuweisung und Abwertung Betroffenen auch eine Selbst-Anpassung an die ohnehin vorhandenen Vorurteile sein, so dass diese zur selbst-erfüllenden Prophezeiung werden. Denn:
„Wem ständig vorgeworfen wird, er wolle sich nicht anpassen, und wer unabhängig von der eigenen Anstrengung immer wieder wegen seines Aussehens oder Namens als integrationsunwillig bezeichnet wird und dadurch auf Schwierigkeiten stößt, der gibt irgendwann auf und wendet sich tatsächlich ab.“[9]
Ferner ist nachgewiesen, dass Ausgrenzung und Diskriminierung das Selbstbild der ausgegrenzten Gruppe stark beeinflussen kann. Der berühmte „Doll Test“ von Kenneth Bancroft Clark und Mamie Phipps Clark, der zum ersten Mal in den 1940er Jahren in den USA durchgeführt wurde, verdeutlicht dies. In dem Experiment wurden Kindern im Vorschulalter Puppen mit verschiedenen Hautfarben präsentiert und dazu aufgefordert, zu unterscheiden: „Which doll is the nice doll? Which doll is the pretty doll? Which doll is the bad doll?“ Das Ergebnis war eindeutig: Während die meisten schwarzen Kinder für die weißen Puppe positive Adjektive wie hübsch und gut auswählten, schrieben sie der schwarzen Puppe negative Attribute wie schlecht und hässlich zu. Ferner identifizierten sich viele schwarze Kinder zwar mit den schwarzen Puppen, bevorzugten aber mehrheitlich die weißen Puppen zum Spielen.[10]
Gegensätzliche Folgen von GMF
Es zeigt sich, dass GMF und Identität unmittelbar miteinander zusammenhängen. So dient GMF bei „Täter*innen“ dazu, die eigene Position in Abgrenzung zu den „Anderen“ (noch weiter) zu erhöhen. Gleichzeitig wirkt sich GMF bei Betroffenen nicht nur insofern aus, als dass sie Diskriminierung und Ungleichbehandlung ausgesetzt sind oder ihnen der Zugang zu Ressourcen verwehrt wird. Auch kann das eigene Selbstbild in Mitleidenschaft gezogen werden, indem sich negative Vorurteile wie eine selbsterfüllende Prophezeiung erfüllen.
GMF muss jedoch nicht zwangsläufig negative Folgen für das Selbstbild von Betroffenen haben. Schließlich streben Individuen, der Theorie der sozialen Identität von Tajfel und Turner folgend, stets danach, eine positive soziale Identität zu erhalten. Eine positive soziale Identität wiederum erhält man durch Vergleiche mit relevanten out-group – womit wir wieder bei der Konstruktion von Identität durch Differenz zum signifikanten „Anderen“ angelangt wären.
Und so verwundert es nicht, dass GMF auch das genaue Gegenteil bewirken und zu einer Stärkung der sozialen Identität von Betroffenen beitragen kann. Beispiele hierfür sind soziale Proteste, Unruhen und Aufstände bis hin zum Bürgerkrieg, wenn diejenigen, die ausgegrenzt werden, sich nicht mehr länger ausgrenzen lassen wollen und mehr Gleichwertigkeit einfordern.[11]
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass GMF und Identität bei beiden Gruppen – die sie ausübenden wie die von ihr betroffenen Personen – eng miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Dabei können die Folgen auf Identität und Selbstbild von Betroffenen nicht nur weitreichend, sondern auch höchst unterschiedlich sein. Zugleich stellt dies einen Lichtblick dar, denn es bedeutet, dass das Erleben von GMF Betroffene nicht zwangsläufig machtlos hinterlässt, sondern sie auch umso stärker und handlungsfähiger machen kann.
[1] vgl. Supik, Linda (2005): Dezentrierte Positionierung: Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken, Bielefeld: Transkript Verlag, S. 45f.
[2] Hall, Stuart (1999a): Ethnizität: Identität und Differenz, in: Jan Engelmann (Hrsg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt/ New York: Campus, S. 93.
[3] vgl. Hall, Stuart (1994b): Die Frage der kulturellen Identität, in: Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag, S. 182.
[4] Sarasin, Philipp (2001): Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Keller et al. (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Opladen: Lemke + Budruck, S. 69.
[5] vgl. Groenemeyer, Axel (2003): Kulturelle Differenz ethnische Identität und Ethnisierung von Alltagskonflikten. Ein Überblick sozialwissenschaftlicher Thematisierungen, in: Groenemeyer, Axel/ Maniel, Jürgen (Hrsg.): Die Ethnisierung von Alltagskonflikten, Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 15.
[6] ebd.
[7] vgl. Mecheril, Paul (2003): Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster: Waxmann Verlag, S. 142.
[8] vgl. ebd., S. 144.
[9] https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/
[10] https://www.deutschlandfunk.de/schubladen-im-kopf-wie-vorurteile-unser-denken-bestimmen-100.html
[11] https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/
Autorin: Mareike Schmidt/ April 2022
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