Kommentar/ Meinung
Als Sozialarbeiterin¹ ist es natürlich sehr einfach, mit den Finger auf „die da oben“ und den „bösen digitalen Finanzkapitalismus“ zu verweisen. Schuld sind bei solchen dogmatisch geführten Diskussionen viel zu oft nur die Anderen. Selbstkritisch muss man aber feststellen, dass der Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) über gerade einmal 6.000 zahlende Mitglieder verfügt, obwohl weit mehr als 250.000 Fachkräfte mit einem Fachhochschulstudium in Deutschland in den verschiedensten Handlungsfeldern tätig sind.
Noch selbstkritischer muss man festhalten, dass es die eine oder andere Fachkraft geben soll, die noch nie etwas von ihrem eigenen Berufsverband gehört hat. Man stelle sich einmal einen Arzt vor, der zehn Jahre eine Praxis leitet und den Virchowbund (dem Verband der niedergelassenen Ärzte) nicht kennt. Das ist zu Recht nur schwer vorstellbar. Ärztinnen diskutieren auf den verschiedenen professionseigenen Netzwerken auch nicht jahrelang darüber, ob man nun eine Profession ist oder eben doch nicht. Ärzte sind eben Ärzte. Der Arztberuf konnte über Jahrhunderte einen professionellen Habitus herausgebilden und entsprechende Selbstorganisationsstrukturen entwickeln. Darum konnte nicht erst Dr. Stefan Frank in den 1990er Jahren mit voller Inbrunst sagen: „Lassen Sie mich bitte durch, ich bin Arzt!“. Man stelle sich nur vor, Dr. Frank wäre Sozialarbeiter gewesen: Man hätte ihn nicht durchgelassen, geschweige denn ihm eine Serie auf RTL gewidmet.
Die noch junge Profession „neuen“ Typs“ der Sozialen Arbeit in Deutschland (frei nach Bernd Dewe) muss selbstkritisch feststellen, dass die aktuellen sozialen, politischen und ökonomischen Diskurse weitgehend ohne ihre wirksame Mitbeteiligung geführt werden. Das hat viele Gründe, da viele Fachkräfte in sehr unterschiedlichen Berufs- und Handlungsfeldern arbeiten und sich so nur sehr schwierig ein einheitliches Professionsverständnis von Sozialer Arbeit herausbilden kann.
Dabei bietet die Geschichte der modernen Sozialen Arbeit genügend hilfreiche Anregungen, wie man im Sozialen Sektor Öffentlichkeit herstellen und gesellschaftliche „Diskurse“ mitgestalten kann, wie es so scheußlich-schön im Soziologendeutsch heißt.
Einer, von den man auch heute noch einiges lernen kann, ist Saul Alinsky, der sicher prominenteste Vertreter des Community Organizing in den USA.
Für Alinsky, einen nicht-dogmatischen (Neo-)Marxisten war es als ehemaligen Mitarbeiter der Chicago School of Sociology stets klar: Menschen ohne ökonomische Macht müssen sich zusammenschließen, wenn sie gegen die Interessen von finanzstarken Gruppen etwas entgegensetzen wollen. Denn frei nach dem berühmten Thomas-Theorem: „Macht ist nicht, was jemand hat, sondern das, von dem man denkt, dass jemand es hätte.“ Wenn Fachkräfte der Sozialen Arbeit in Deutschland eben davon ausgehen, dass sie machtlos sind, was sollen wohl dann andere Interessengruppen über die Soziale Arbeit erst denken?
Die deutschen Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren in Folge der Wahlerfolge Barack Obamas, der drei Jahre als Organizer in den 1980er Jahren in der Chicagoer South Side gearbeitet hat, wieder verstärkt mit Alinskys Ansätzen beschäftigt. Innerhalb der Sozialen Arbeit in Deutschland wurde Alinsky auch seit den 1990er Jahren wieder vermehrt besprochen – zudem gibt auch zwei Vereinigungen in Deutschland (FOCO und DICO), die sich explizit auf Alinksy berufen, aber nur sehr wenige Projekte in dieser Community-Organizing-Tradition bislang umsetzen konnten.
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Sozialstaatssysteme in den USA und in Deutschland ist es selbsterklärend, dass eine so widerständige Form von Sozialer Arbeit in Deutschland sich praktisch nicht Eins-zu-Eins umsetzen lässt. Die sehr aggressive Gemeinwesenarbeit in den 1970er Jahren in Deutschland, musste deshalb auch sehr schnell erkennen, dass man nur mit widerständigen und konfliktorientierten Aktionen bei auf Ausgleich bedachten Trägern wie der Caritas und der Diakonie langfristig keinen Erfolg haben kann.
Aber von Alinsky lernen heißt, dass man sich etwas mehr zutraut und vor allem: sich vernetzt. Was für ein Bild senden Fachkräfte, wenn sie nicht bereit sind, sich in ihren Berufsverband oder einer Gewerkschaft zusammenzuschließen und gemeinsam daran zu arbeiten, ihre eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern?
¹Um eine geschlechtergerechte Sprache und eine leserfreundliche Textgestaltung zu garantieren, wird die männliche und weibliche Form abwechselnd zu gleichen Teilen verwendet. Dadurch sollen immer alle Menschen inkludiert werden, egal welchem und ob sie sich einem Geschlecht zuordnen möchten.