Kommentar/ Meinung

Ohne Netzwerkarbeit kann man langfristig nicht erfolgreich arbeiten. Dieser Grundsatz ist bei den allermeisten Fachkräften in der Gemeinwesen- und Integrationsarbeit Kern der professionellen Praxis. Aber diese wichtige, zeitintensive und nicht immer vergnügungssteuerpflichtige Netzwerkarbeit ist fast immer sach- und themenbezogen. Für die eigenen Arbeitsbelange fehlt vielen Fachkräften die Motivation, die Zeit, aber sicher auch sehr oft die Kraft, um sich für sich selbst und den eigenen Berufsstand einzubringen. Empowern wollen wir dann lieber nur die Adressaten, aber nicht uns selbst.

In der aktuellen Coronakrise wird jeden Tag deutlicher, was alles möglich ist, wenn ein politischer Wille da ist. Die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den deutschen Billigfleischfabriken mit ihren ausbeuterischen Werkverträgen? Wegen Corona plant die Regierung diese Werkverträge einfach zu verbieten. Mehrere hunderte Milliarden Neuverschuldung, um im Namen der Gesundheit vulnerable Gruppen zu schützen? Kein Problem? Die „schwarze Null“? Ein Relikt aus der „alten Normalität“. 

Und was hört man aus den Reihen der Sozialen Arbeit? Eher ein bedächtiges Schweigen. Kein großer Artikel im Spiegel, Zeit oder FAZ zu den Arbeitsbedingungen in überlasteten Jugendhilfesystemen oder nur in Nebensätzen mit Bezug zu den schrecklichen Fällen von dutzendfachen Kindesmissbrauch wie vor Kurzem im Lügde und Bergisch Gladbach.

Fachkräfte, die für präventivausgerichtete Projekte versuchen zu werben und Fördergelder zu gewinnen, wie im Rahmen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung in Tradition der Essener Schule von Wolfgang Hinte, müssen um jeden Projekt-Euro für ein innovatives Jugendhilfeprojekt kämpfen.

Es müssen erst viele Kontrollinstanzen ausfallen und schockierende Fälle von Kindesmissbrauch bekannt werden, damit man feststellt, dass eine Fachkraft im Jugendamt eben nicht 80 „Fälle“ fachgerecht bearbeiten kann. Die Wahrheit, die daraus folgt, ist altbekannt: Professionelle Soziale Arbeit ist personen- und kostenintensiv. Soziale Arbeit kann aber bereits mit geringen Projektmitteln viele kleinere soziale Probleme des Alltags abfedern und erst gar nicht eskalieren lassen. Aber nicht eingetretene soziale Probleme lassen sich nur schwer evaluieren. Deshalb braucht es selbstbewusste und professionelle Vertreterinnen¹, die einem eindimensionalen Spardiktatsdogma fachlich etwas entgegensetzen können, damit am Ende nicht das ökonomische TINA-Prinzip herhalten muss, um die Haushaltsmittel für Projekte der Sozialen am Ende der Haushaltsverhandlungen wieder mal zu beschneiden, weil eben am Ende die „Schwarze Null“ stehen muss.

Die Soziale Arbeit in Deutschland sollte sich von ihren Kolleginnen des Pflegewesens eine Scheibe Selbstbewusstsein abschneiden. Denn die Kollegen haben es in den letzten Jahren geschafft, auf ihre mehr als berechtigten Anliegen und die vielen Missstände im Kranken- und Pflegewesen öffentlichkeitswirksam hinzuweisen und den Pflegenotstand auf die politische Agenda zu setzen.

Aber damit die Menschen im Land sich mit den Anliegen der Sozialen Arbeit beschäftigen und sich ebenso solidarisieren, müssen noch viel mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen ihren Mund aufmachen und sich auch trauen, ihre Interessen lautstark zu äußern – und sich vielleicht auch bei Spitzen in Kommunal- und Trägerspitzen unbeliebt zu machen. 

Als Sozialarbeiter sollte man immer ein Stück weit Berufsoptimist sein, auch wenn die Wirklichkeit einem diese optimistische Grundhaltung nicht einfach macht. Es bleibt daher zu hoffen, dass mehr und mehr Fachkräfte der Sozialen Arbeit im Laufe der Coronakrise mutiger werden und diese Krise auch als Chance verstehen, sich mehr für die eigenen Interessen einzusetzen. Denn Interessen sind weder böse noch schädlich, sondern eine grundlegende Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen. 

Die eher melancholische Alternative ist, dass man weiter nur Spielball vermeintlicher ökonomischer Zwänge bleibt und darüber klagt, dass man eh nichts ändern kann. Die Coronakrise sollte auch den Fachkräften der Sozialen Arbeit zeigen, dass man sehr viel ändern kann, wenn man sich nur traut. Soziale Arbeit wäre deshalb gut beraten, etwas mehr Mut zu wagen. Denn:  „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“

Recht hatten sie, die alten Griechen!

  

¹Um eine geschlechtergerechte Sprache und eine leserfreundliche Textgestaltung zu garantieren, wird die männliche und weibliche Form abwechselnd zu gleichen Teilen verwendet. Dadurch sollen immer alle Menschen inkludiert werden, egal welchem und ob sie sich einem Geschlecht zuordnen möchten.

Autor: Nick Passau / Juli 2020

Foto: Image by Alexas_Fotos from Pixabay