Rassismus ist in aller Munde. 

Wir stolpern über Diskussionen in den Social Medias, Artikel in Zeitungen und Magazinen oder in Gesprächen mit Bekannten und Freunden. Auch bei Ibis ist das Thema (wieder einmal) angekommen.

 

Übergriffe in Ägypten

Viele Diskussionen im Team und das Buch „White Fragility“ von Robin DiAngelo erinnerte mich an eine Situation auf einer Facebook-Seite, die ich neulich erlebte. In einer Gruppe, die sich dezidiert gegen rechts positioniert, wurde ein Zitat, das Tupoka Ogette zugeschrieben wurde, gepostet: 

„Rassismus gegen weiße Menschen gibt es nicht. Nicht in Deutschland und auch nicht woanders. Rassismus ist ein System, von dem weiße Menschen strukturell profitieren. Die Bevorteilung weißer Menschen ist dessen Basis. Daher können sie nicht gleichzeitig negativ davon betroffen sein.“¹

Ich habe das Zitat mehrmals gelesen und darüber intensiv nachgedacht. Und wie bei vielem neigte ich unterm Strich zu einem gesunden „Jein“. 

Ja, als „weißer“ Mensch (der als „weißer Mensch“ wahrgenommen wird) in der Bundesrepublik (oder Westeuropa oder den Vereinigten Staaten) unter Rassismus zu leiden, dass halte ich auch für unmöglich. Rassismus als System ist in diesen Ländern tatsächlich darauf ausgelegt, dass „weiße Menschen“ (die auch als „weiße Menschen“ wahrgenommen werden) privilegiert werden.² Daran hängt die Frage: Funktioniert Rassismus grundsätzlich und überall auf der ganzen Welt nur so? Gibt es auf dieser Welt ausschließlich Rassismus gegen PoC (People of Colour)? Oder kann sich Rassismus „woanders“ auch gegen andere richten? Vielleicht sogar gegen Menschen, die in anderen Kontexten dezidiert als „weiße“ Menschen verortet werden?

Nach längerem Überlegen habe ich dann in der Facebookgruppe eine Erfahrung gepostet, die ich selbst gemacht habe (und die, wie man unten sehen wird, nicht ausschließlich oder im Besonderen mich betrifft, sprich keine bloße Einzelerfahrung ist). Vor 20 Jahren habe ich im Rahmen eines Stipendiums mehrere Monate in Ägypten gelebt und dort sexuelle Übergriffe erlebt, die aus meiner Sicht nicht rein sexistisch oder misogyn motiviert waren. Denn diese Übergriffe erfolgten nicht nur, weil ich eine Frau bin, sondern eine westliche, nicht-muslimische Frau. 

 

Ein kurzer Exkurs

Bevor ich dies weiter ausführe, muss ich ergänzen, dass auch muslimische Frauen, sogar solche, die sich – z.B. durch ihre Kleidung – deutlich als „muslimisch“ und „gläubig“ für ihr Umfeld sichtbar machen, sexuellen Übergriffen in Ägypten ausgesetzt sind.³ 

Im Gegensatz zu mir sind sie dies nicht für einen begrenzten Zeitraum, können sich dem ggf. nicht entziehen (z.B. weil sie kein Geld haben, um ein Taxi zu nehmen, anstatt zu Fuß zu laufen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren) und haben trotz ihrer deutlich höheren sprachlichen Kompetenzen wenig Möglichkeiten, sich direkt in der Situation zu wehren bzw. Hilfe zu finden. Zudem sind nicht all ägyptischen Männer sexuell übergriffig. Das muss ebenso betont werden. Ungefähr ein Drittel der ägyptischen Männer gibt selbst an, NICHT übergriffig zu sein.4 Abschließend tragen westliche, nicht-muslimische Frauen zu Übergriffen auf Dritte (insbesondere andere westliche, nicht-muslimische Frauen) bei, indem sie Ägypten (neben Jamaika, Kenia, Tunesien oder Marokko) nutzen, um sich ein paar nette Tage mit einem (zumeist deutlich jüngeren) einheimischen Mann am Strand und im Hotel zu machen5. Mangelnde Bildung in Kombination mit dem Konsum westlicher Pornos6 und wenig vorhandenem Austausch mit westlichen Frauen (abseits der „Sugar Mummys“) tun dann den Rest dazu.

Kultureller Rassismus

Zurück zu meinen Erfahrungen 2001 in Kairo, die wie oben bereits angerissen keine Einzelerfahrung ist. Fast jede westeuropäische Frau, die sich längere Zeit aus beruflichen oder Studiengründen in Ägypten aufgehalten hat, ist dem „sexual harassment“ ausgesetzt – Schätzungen gehen soweit zu sagen, dass es 98% aller westlichen Frauen sind.7  

„Wswswsws“-Flüstern, Rufe von „Ya qamri“ (mein Mond), „Ya asli“ (mein Honig) bis hin zum gezielten Griff an die Brust oder zwischen die Beine, das alles und mehr ist möglich. Allein aus feministischer Sicht sollte dies uns als betroffene Westeuropäerinnen dazu bringen, uns mit den Ägypterinnen, die diesem Verhalten ein Leben lang ausgesetzt sind, zu solidarisieren, sogar wenn wie im Falle der einheimischen Frauen reiner Sexismus hinter diesem Verhalten steckte.

Zusätzlich erfüllen der Erfahrungen der westeuropäischen Frauen aber aus meiner Sicht auch den Tatbestand des kulturellen Rassismus, des „Rassismus ohne Rassen“, wie es Balibar benannte:8  Es gibt eine Einteilung in zwei Gruppen (wir, die muslimischen Menschen, insbesondere Männer; ihr, die westlichen nicht-muslimischen Menschen, insbesondere Frauen). Eine der Gruppen (zu denen die Täter sich rechnen) ist die vermeintlich (moralisch und kulturell) bessere Gruppe: wir sind gute Muslime und sind deswegen diesen Westeuropäern, insbesondere diesen westeuropäischen Frauen, die nur an Sex interessiert sind, weit überlegen. Unsere Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten, die wir uns kollektiv zuschreiben, sind gut. Eure, die wir euch kollektiv zuschreiben, schlecht. Ob ihr wollt oder nicht, ihr gehört dieser Gruppe mit ihren Merkmalen an. Denn wir haben die Wirkmächtigkeit dies festzulegen, ohne euch zu fragen.

  1. Daran schließt sich dann ein konkret diskriminierendes und übergriffiges Verhalten an, das durch die Zuschreibungen legitimiert wird. 
  2. Dabei gibt es nicht nur Vorfälle durch einzelne, sondern es gibt Strukturen, die diesen Rassismus im Denken und Handeln mit verwurzeln und als sagbar/ machbar verorten. Z.B. indem andere Anwesende während eines Übergriffs diesen durch verbale und non-verbale Äußerungen gutheißen. Indem Mitglieder staatlicher Organe wie z.B. der Polizei mit beteiligt sind. Indem in Social Medias das Verhalten begrüßt und gewürdigt wird. Indem Persönlichkeiten mit großer gesellschaftlicher Wirkung, wie z.B. einflussreiche Fernsehprediger wie Yusuf al-Qaradawi9 oder extremistische Vordenker wie Sayyid Qutb10 Vorurteile über „den Westen“ und „die westliche Frau“ bedienen. Die Liste, wie dieser kulturelle Rassismus systemisch verankert wird, lässt sich beliebig fortsetzen. Ich möchte nicht leugnen, dass die Strukturen informellerer Natur sind als z.B. ein Racial Profiling bei der deutschen Polizei.11 Vorhanden sind sie dennoch.
  3. Im konkreten Fall werden diese Elemente des kulturellen Rassismus mit dem in Ägypten weit verbreiteten Sexismus vermischt, der weite Teile der ägyptischen Frauen wie oben dargestellt ebenso trifft.

Die Reaktion

Die Reaktionen auf meinen Post ließen nicht lange auf sich warten. Es ging hin und her. 

Mal wertete ich in den Augen der Rezipienten die Erfahrung von PoC ab. 

Mal wertete ich PoC im ganzen ab. 

Ich sei selbst rassistisch. 

Ich sei eine herablassende weiße Frau, die Betroffenen erklären wolle, was Rassismus sei. 

Ich würde Sexismus und Rassismus verwechseln. 

Rassismus und patriarchale Strukturen bzw. Rassismus und sozio-ökonomische Machtstrukturen würden nicht zusammenhängen.

Araber seien nicht rassistisch. 

Es gebe keine rassistischen Muslime. 

Ich sei selbst schuld, was würde ich mit meiner weißen Arroganz in solche Länder fahren und mich dann später noch beschweren.

Ich würde mich zum Opfer stilisieren, dabei könne ich nicht nachvollziehen, was wirkliche Opfer erleiden.

Ich sei das personifizierte whitesplaining.

Denkpause und Antworten

Erneut ging ich in mich und versuchte dann nach einiger Selbstreflexion, meine Position zu erklären. Nicht mit dem Ziel jemanden zu überzeugen, sondern vielmehr in einen Prozess zu kommen, sich wechselseitig zuzuhören, wechselseitig neugierig zu sein, Neues zu erfahren und andere Perspektiven einzunehmen, ohne die eigene dann aufgeben zu müssen.

Als schrieb ich:

Dass es mir zunächst einmal nur um das erste Zitat gegangen sei und dieses zu hinterfragen. Und zwar bezüglich der Annahme, dass es nirgendwo Rassismus gegen vermeintlich „weiße“ Personen geben könne.

Dass ich nur meine Sicht aufzeigen wolle, dass kulturrassistisch motiviertes Verhalten überall durch eine hegemoniale Gruppe gegenüber einer Gruppe von vermeintlich „anderen“, denen man defizitäre Merkmale zuschreibt, möglich ist. Dass Rassismus etwas mit Wirkmächtigkeit und sozio-ökonomischen Status, der mit patriarchalen Strukturen einhergeht, zu tun hat. Mit den gesellschaftlichen Strukturen, die darauf angelegt sind, bestimmte Gruppen zu privilegieren und andere systematisch zu benachteiligen.

Dass in unserer Welt zumeist tatsächlich „weiße“ (zumeist männliche, zumeist heterosexuelle) Menschen diejenigen mit den Privilegien sind, diejenigen, die von einem System mit inhärenten rassistischen Strukturen profitieren. Gerade in den USA und Westeuropa, wie oben beschrieben. Dass dies aber nicht bedeutet, dass rassistische Denkweisen und rassistische Strukturen nur von weißen Menschen genutzt und aufgebaut werden können, egal ob bewusst oder unbewusst.

Dass ich nicht daran zweifle, dass Menschen, die sich rassistischen Anfeindungen ihr Leben lang ausgesetzt sehen und sich dem nicht entziehen können, weitaus schlimmeres erleben, als ich in meinen paar Monaten in Ägypten. Dass ich mir auch nicht anmaße, dies gleich zu setzen.

Dass ich meine persönliche Erfahrung eher dafür genutzt habe, meine eigenen rassistischen Gedanken, Motive und Handlungen zu hinterfragen und mich mit Menschen, die Diskriminierung, beispielsweise rassistischer Natur, erfahren, zu solidarisieren. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was sie durchmachen und mir das gar nicht anmaßen möchte.

Prämissen

Um es kurz zu machen, ich habe die Facebook-Gruppe dann irgendwann verlassen. Nicht weil ich mich diskriminiert fühlte oder wir uns nicht auf gemeinsame Positionen einigen konnte (wie oben beschrieben, war das für mich kein Ziel). Vielmehr wurde mir deutlich, dass es gar keine gemeinsame Grundlage für einen Austausch gab. Die Gruppenmitglieder, die in die Diskussion verwickelt waren hatten mehrere Prämissen, die ich kritisch fand und finde:

  1. Prämisse: Es gibt eine verbindliche Definition, was Rassismus ist. Diese kann sich nicht entwickeln, ändern oder anpassen. Wissenschaft lebt davon, dass Definitionen entwickelt, angepasst und geändert werden. Wenn man sich ansieht, wie der Rassismus-Begriff durch Hall und Balibar (oder in der BRD insbesondere durch Jäger12) in den 90er-Jahren um den „kulturellen Rassismus“ erweitert wurde, zeigt sich, dass rein von den Fakten her diese Prämisse nicht haltbar ist.13Die Rassentheorie eines Arthur Comte de Gobineau führte zu einem in gedachten „Menschenrassen“ verwurzelten Rassismus. Die meisten Rassist*innen beziehen sich heute dagegen gar nicht mehr auf „Rassen“, sondern auf vermeintliche „Ethnien“, Kulturen oder Religionen. Wäre die Wissenschaft bei einer Rassismusdefinition stehen geblieben, die sich ausschließlich auf die Rassentheorie eines de Gobineau bezöge, dann könnte diese Entwicklung im Rassismus gar nicht erfasst werden.
  1. Prämisse: Nur PoC können festlegen, was eine rassistische Erfahrung ist. Weil nur sie davon betroffen sind. Wenn eine andere („weiße“) Person diese Sichtweise hinterfragt, ist diese Person übergriffig. 

Wie oben aufgeführt wurde, gibt es in der Definition kulturellen Rassismus deutliche Kriterien,  dass nicht nur PoC von Rassismus betroffen sein können, sondern auch (vermeintliche) Mitglieder (vermeintlicher) Gruppen, die von Außenstehenden auf Grund von Merkmalen wie Religion, Kultur oder „Ethnie“ in eine Schublade gesteckt werden. Zudem können nicht persönliche Empfindungen Grundlage für eine Festlegung sein, was rassistisch ist, sondern Rassismus muss an objektiven Kriterien messbar sein (wie jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an objektiven Kriterien messbar sein muss). Beispielsweise kann eine Frau eine Situation als sexistisch empfinden, ohne dass diese Situation an sich sexistisch ist. Das ändert nichts daran, dass das individuelle Befinden seine Berechtigung hat – jede Frau kann und darf etwas als sexistisch einordnen, muss aber aushalten, dass andere Personen sagen: „Es mag sich so anfühlen, aber wenn Du objektive Kriterien anwendest, dann zeigt sich, dass dem nicht so ist.“

Um es nochmals zu betonen: damit wird dem einzelnen, der diskriminiert wird, nicht abgesprochen, zu fühlen wie er oder sie fühlt. Vielmehr wird eine Unterscheidung zwischen objektiver Situation und die subjektiver Wahrnehmung möglich (trotz aller Unschärfen, die es notwendigerweise geben muss, denn eine vollkommen objektive Bewertung ist selbstverständlich nie möglich). Wenn es keine Unterscheidung mehr zwischen subjektivem Empfinden und (einer Annäherung an einen) objektiven Tatbestand gäbe, wäre Wissenschaft, wäre Forschung, wäre aber auch gesellschaftlicher Diskurs nicht mehr möglich. Bezüglich des Rassismus würde dann in der Diskussion um Rassismus jede Äußerung durch eine Person, die nicht PoC ist, automatisch zum „whitesplaining“, zum erneuten rassistischen Übergriff. 

PoC müssen unbestreitbar eine Stimme haben, es darf nicht über sie gesprochen werden, ihre Meinung hat besonderes Gewicht. Die Diskussion kann jedoch auch nicht – im anderen Extrem – ausschließlich PoC vorbehalten sein. 

  1. Prämisse: Weiße sind immer Täter*innen und immer privilegiert. PoC sind nie Täter*innen und nie privilegiert. 

Wie oben bereits deutlich wurde, wird bei dieser Sicht ausschließlich auf den IST-Zustand in der „westlichen Welt“ abgestellt und zumeist Menschen mit afrikanischen Wurzeln in den Fokus genommen. Dass wir uns in der aktuellen Debatte besonders darauf konzentrieren ist nachvollziehbar, gerade nach dem Todesfall George Floyd. Aber dies darf nicht dazu führen, andere rassistische Diskurse aus dem Blick zu verlieren. Z.B. die „selektive Aneignung rassistischer Ideologien und Praktiken in Japan“14 im 19. und 20. Jahrhundert, die sich z.B. gegen Koreaner und Chinesen im Zweiten Weltkrieg zeigte oder zuletzt bei einer japanischen Miss-Universe-Kandidatin 2015, die als „halfu“ („Halbblut“) bezeichnet wurde und deren Kandidatur einen Sturm der Entrüstung in Japan auslöste. Tatsächlich zeigen sich hier sogar ganz klassische rassistische Tendenzen, wie von de Gobineau entwickelt. Oder aber der Rassismus in der Ülküçü-Bewegung/ den sogenannten „Grauen Wölfen“, bei denen Nihal Atsız in den 1960er Jahren formulieren konnte: „Ein Türke glaubt an die Überlegenheit der türkischen Rasse, schätzt deren nationale Vergangenheit und ist bereit, sich für die Ideale des Türkentums zu opfern (…).“15Dabei richtet sich dieser Rassismus nicht nur gegen Kurd*innen, Armenier*innen oder Roma/ Romnija, sondern wird auch von Antisemitismus begleitet.

Es wäre ebenfalls zu fragen, ob es beispielsweise unter Afrikaner*innen Rassismus gibt – können z.B. in einem Bürgerkrieg in einem afrikanischen Land Auseinandersetzungen zwischen (vermeintlichen) „ethnischen“ oder religiösen Gruppen rassistisch aufgeladen sein? Gibt es rassistische Vorurteile von Menschen eines afrikanischen Landes gegen Menschen eines anderen afrikanischen Landes? Kenrick und Lewis verweisen auf die weit verbreitete Diskriminierung von „Forest People“, denen von umliegenden Stämmen, die sie als „ignorant, dumm, primitiv, kulturlos und nicht ganz menschlich“16ansehen. Inwieweit könnten solche Formen des Rassismus durch den Kolonialismus entstanden sein? Gibt es vielleicht Formen des Rassismus, die sogar auf die Zeit vor der Kolonialisierung zurückgehen? Gerade an diesen Beispielen wird deutlich, wie stark Rassismus an die Frage von Vorherrschaft und Mehrheitsbevölkerung gebunden ist.

 

Fazit

Ein Großteil dessen, was Menschen an Rassismus erleben und was auch publik gemacht wird, betrifft die USA und Europa; dort richtet sich Rassismus selbstverständlich gegen PoC (im weitesten Sinne, denn die binäre Zuschreibung „weiß“ – „nicht-weiß“ ist selbstverständlich nicht an eine Hautfarbe gebunden). 

Das ist nicht zu bestreiten und soll an dieser Stelle auch nicht bestritten werden, das ist nicht Ziel dieses Beitrags.

Jede Debatte, dass in den USA, in Europa oder in der Bundesrepublik von der Mehrheits-gesellschaft als „weiß“ wahrgenommene Personen rassistischen Strukturen ausgesetzt sind, ist deswegen aus meiner Sicht obsolet. Selbstverständlich gibt es die Vorfälle in der Disko oder dem Schulhof, wo eine „weiße“ Person Kartoffel genannt oder gemobbt wird. Aber diese Arten der Diskriminierung sind kein Rassismus, weder kultureller noch sonstiger Art, weil sie nicht strukturell sind. Dass „Deutschenfeindlichkeit“, ein rechter Kampfbegriff, seinen Weg in die Polizeistatistik finden konnte, ist angesichts des strukturellen, kulturellen Rassismus in unseren westlichen Gesellschaften äußerst fragwürdig.

Also: kein whataboutism, kein Kleinreden rassistischer Erfahrungen von PoC, kein rechtes Schreckgespenst armer „Deutscher“, die angeblich rassistisch verfolgt werden.

Statt dessen zielt dieser Beitrag darauf ab, Rassismus ist als Mechanismus, als mögliche Denk- und Verhaltensweise, die sich in den Strukturen eines Gesellschaftssystems ebenso niederschlägt wie im individuellen Verhalten eines Einzelnen, zu beleuchten, wobei dieser Mechanismus nicht „an sich“ ausschließlich „Weißen“ vorbehalten ist. Historisch hat Rassismus sich in der „westlichen“ Gesellschaft mit ihren Diskursen, ihrem Kolonialismus sowie ihren Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmethoden entwickelt.

Aber  Rassismus hat von der „westlichen“ Welt ausgehend Fuß in anderen Kulturen und Staaten gefasst, um dort Privilegien von herrschenden Gruppen zu schützen. Vielleicht wird dieser aktuell vorhandene Rassismus sogar von in der vorkolonialen Geschichte verwurzelten rassistischen Tendenzen gestützt. Dies muss jedoch genau untersucht werden und kann hier nur als ein theoretisch vorhandene Möglichkeit benannt werden, ohne sich dazu eindeutig zu positionieren. Wenn man sich mit Rassismus auseinandersetzt, darf man die weltweite Verbreitung und Wirkung von Rassismus ebensowenig vergessen wie sich immer wieder selbst zu fragen: „Wo sind meine Stereotypen und Vorurteile? Wo handele ich rassistisch? Wo sind die Strukturen in unserem System, die andere ausgrenzen und meine Privilegien sichern?“ Rassistische Anteile – nicht geschlossene rassistische Weltbilder! – im Sinne von Stereotypen und Klischees, die sich unmerklich mit anderen verknüpfen und langsam zu rassistischen Motiven in unseren Köpfen entwickeln (können), tragen wir alle in uns. Ausgrenzende Mechanismen, die Anknüpfungspunkte für Rassismus bieten (können), gibt es in jeder menschlichen Gesellschaft.

Es gilt, sie gut im Auge zu behalten. 

Immer und überall.

 

1 https://www.facebook.com/groups/1584361998467221/?post_id=2869941749909233, zuletzt angesehen um 12.44 Uhr am 26.08.2020

2 vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/was-ist-rassismus/, zuletzt angesehen um 12.46 Uhr am 26.08.2020

3 https://www.unfpa.org/fr/news/“your-voice-your-weapon”-taking-sexual-harassment-egypt; https://promundoglobal.org/wp-content/uploads/2017/05/IMAGES-MENA-Multi-Country-Report-EN-16May2017-web.pdf, S. 84, f.; https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sexuelle-belaestigung-in-aegypten-fast-jede-frau-betroffen-a-1183910.html; https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/aegypten-auf-der-strasse-mache-ich-mich-unsichtbar, zuletzt angesehen um 13:07 Uhr am 26.08.2020

4 https://promundoglobal.org/wp-content/uploads/2017/05/IMAGES-MENA-Multi-Country-Report-EN-16May2017-web.pdf, S. 84, f, zuletzt angesehen um 13:07 Uhr am 26.08.2020

5 https://taz.de/Weiblicher-Sextourismus/!5105225/, zuletzt angesehen um 13:10 Uhr am 26.08.2020

6 el Feki, S. (2013): Sex und die Zitadelle. S. 185, f.; https://elkonafa.com/article/egypts-stance-pornography, zuletzt angesehen um 13:12 Uhr am 26.08.2020

7 https://egyptindependent.com/sexual-harassment-file-foreign-women-egypt-and-harassment/, zuletzt angesehen um 13:15 Uhr am 26.08.2020

8 Balibar, É. (1990): Gibt es einen Neo-Rassismus? In E. Balibar & I. Wallerstein (Hrsg.), Immanuel, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten.

9 https://mesbar.org/yusuf-al-qaradawi-false-moderate-and-true-radical/, zuletzt angesehen um 13:20 Uhr am 26.08.2020

10 Sabine Damir-Geilsdorf (2003): Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption.

11 zur Problematik des Racial Profiling: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten

12 http://library.fes.de/fulltext/asfo/01014001.htm

13 https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/11313/03_kap2.pdf?sequence=4&isAllowed=y, zuletzt angesehen um 13:22 Uhr am 26.08.2020

14 https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/213683/rassentheorien-und-rassismus-in-asien-im-19-und-20-jahrhundert, zuletzt angesehen um 13:30 Uhr am 26.08.2020

15 https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/260333/graue-woelfe-die-groesste-rechtsextreme-organisation-in-deutschland, zuletzt angesehen um 13:32 Uhr am 26.08.2020

16 Kenrick, J and Lewis, JD (2001) Evolving Discrimination against the Forest People (‘Pygmies’) of Central Africa. In: Chakma, S, (ed.) Racism against Indigenous Peoples. S. 314

Autorin: Patricia Jessen/ Dezember 2020

Bild: aalmeidah auf Pixabay