Stein, Schimon; Zimmermann, Mosche (2020): Wegweiser für die Verwirrten. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht  und politische Interessen. Berlin. Metropol. S. 19-32.

Deutschland und der Antisemitismus. Zwei Wörter bei denen sofort viele Assoziationen durch den Kopf fliegen. Deutschland hat eine besondere Beziehung und gesellschaftliche Verantwortung bei dem Themenkomplex Antisemitismus und Judenfeindlichkeit. Deshalb ist die Debatte über dieses überaus komplexe Thema auch eine andere, als in den übrigen westlichen geprägten Staaten. 

Wenn dazu Wolfgang Benz einen neuen Sammelband zu diesem Thema herausbringt, ist es gerade in einer Zeit, in der rechtsdogmatische Parteien überall in Europa auf eine breite und stabile Wählerschaft zurückgreifen können lohnenswert, sich mit diesem Sammelband eingehender zu beschäftigen. Da darin aber einige sehr interessante Beiträge zusammengefasst worden sind, soll zunächst der erste – und nach Ansicht des Autors – überaus lohnenswerte Beitrag „Wegweiser für die Verwirrten“ rezensiert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt werden eventuell noch ein, zwei weitere Rezensionen von Beiträgen aus diesem Buch folgen.

Wolfgang Benz ist einer der meist zitiertesten Historiker Deutschlands mit dem Schwerpunkt Antisemitismusforschung. Er lehrte von 1990 bis 2011 an der TU Berlin und leitete das dort angeschlossene Zentrum für Antisemitismusforschung. Auch nach seiner Emeritierung war und ist Wolfgang Benz publizistisch sehr aktiv. Im Juli 2020 gab er den Sammelband „Streitfall Antisemitismus – Anspruch und Deutungsmacht und politische Interessen“ heraus, in dem sich insgesamt 15 Beiträge unterschiedliche Aspekte des Themas Antisemitismus beschäftigen. 

Der erste Beitrag „Wegweiser für die Verwirrten“ im Sammelband wurde von Schimon Stein, dem Botschafter Israels in Deutschland zwischen 2001 und 2007, der heute als Senior Research Fellow am Institute für National Security Studies (INSS) forscht und  dem Historiker Mosche Zimmermann, der von 1986 bis 2012 als Professor für neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt der deutschen Geschichte an der Universität Jerusalem lehrte, verfasst.

In ihrem Beitrag bekräftigen Stein und Zimmermann, dass der deutsche Staat eine besondere Verantwortung beim Thema Antisemitismus hat und das es vor diesem Hintergrund gerade in Deutschland eine nationale Schande darstellt, dass ein Rechtsradikaler im Jahr 2019 eine jüdische Synagoge in Halle angriffen hat. 

Die Autoren stellen aber schon am Anfang ihres Beitrages die Frage, warum man den Themenkomplex Antisemitismus und Judenfeindlichkeit isoliert von anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit trennt. Dies wirke kontraproduktiv, da damit verschiedene politische rechtspopulistische Kräfte das Thema Judenfeindlichkeit für ihre eigenen politischen Agenden missbrauchen und das Thema Antisemitismus vor allem auf die Judenfeindlichkeit in islamischen Ländern und damit verbunden mit dem Phänomen der erweiterten Zuwanderung aus muslimischen Ländern  nach Deutschland missbrauchen können, so Stein und Zimmermann weiter.

Die Berufung auf eine „judeo-christliche„-Tradition vermittelt dazu ein falsches Geschichtsbild, da es suggeriert, dass es im Christentum keinen strukturellen Antisemitismus gegeben habe und das Problem von antisemitischen und judenfeindlichen Positionen vor allem in muslimisch dominierten Ländern vorherrscht, was nicht den empirischen Tatsachen entspricht.

Als besonders negatives Beispiel nennen Stein und Zimmermann die Bundestagsabgeordnete der AfD  Beatrix von Storch, die sich selbst als „stramme Zionisten“ und Fürsprecherin der Interessen Israels darstellt und den islamischen Terror als Grund für die Ausreise vieler französischer Juden nach Israel als Begründung anführt. Dieser Analyse widersprechen die beiden Autoren vehement, da man, ihrer Ansicht nach, nicht von einer „Massenflucht“ Franzosen jüdischen Glaubens nach Israel sprechen könne, da zwischen 2016 bis 2018 nicht „40.000“, sondern „weniger als 10.000“ Einwanderer aus Frankreich in Israel registriert wurden. Die Rechtspopulisten der AfD instrumentalisieren damit den Themenkomplex Antisemitismus und Judenfeindlichkeit und gehen damit eine „unheilige“ Allianz mit der aktuellen Regierung von Premier Netanyahu ein; wohlweislich, dass die extreme Rechte in Deutschland und Europa weiter einen tiefsitzenden Antisemitismus offenbart. Am prominentesten tritt dabei immer wieder der AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag Björn Höcke mit revisionistischen Ansichten hervor, z.B. mit seiner Forderung nach einer „Wende um 180 Grad in der Erinnerungspolitik„.

Dabei nehmen Stein und Zimmerman vor allem die deutschen Juden bei der Bekämpfung des Antisemitismus in die Pflicht und stellen die interessante Frage, wo man selbst die roten Linien bei der Abgrenzung zu anderen Formen von Rassismus zieht. Dabei erkennen sie vor allem die Gefahr, dass die israelische Regierungs- und Besatzungspolitik „unantastbar“ gemacht wird, da seitens der aktuellen israelischen Regierung jede Kritik vorschnell mit dem Etikett des Antisemitismus versehen wird. Ein offener, kritischer und ehrlicher Diskurs ist in einem solchen politischen Umfeld nur schwer möglich.

Daraus leiten Stein und Zimmermann eine der zentralen Forderungen ihres Sammelbandbeitrages ab: In der aktuellen aufheizten politischen Stimmung sollte man das Thema Antisemitismus nicht verinselt als einzelnes Problem behandeln und mittels verschiedener Projekte und Programme begegnen, sondern man sollte diese Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Gesamtkontext des Rassismusproblems behandeln.

Daran anknüpfend stellen die beiden Publizisten eine weitere spannende Frage: Gibt es eine neue Qualität in den verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus – gerade in Deutschland? Antisemitische Vorfälle in Deutschland sorgen für weitaus mehr mediale Aufmerksamkeit als in anderen Ländern. Natürlich ist bei der Betrachtung des Antisemitismusproblems auch die Binnensicht der europäischen Juden relevant. So ergab eine Umfrage im Auftrag der Fundamental Rights Agency (FRA) 2019, dass 85 Prozent der Juden in 12 verschiedenen europäischen Ländern das Thema Antisemitismus als größte gesellschaftliche Herausforderung ansehen und 89 Prozent die Ansicht äußern, dass der Antisemitismus in den letzten fünf Jahren zugenommen habe. Diese Umfrageergebnisse sorgten bei vielen Entscheidern in Politik und Medien für Entsetzen und entsprechenden Reaktionen. Doch trotz dieser eindeutigen Zahlen, kommt nach Ansicht von Stein und Zimmermann die Frage zu kurz, ob dieser Befund für sich genommen bereits eine „neue Qualität“ des Antisemitismusproblems darstellt.

Das liegt auch an vielen Unschärfen bei der Definition von Antisemitismus. Die international am meisten rezipierte Definition stammt von der International Holocaust Remembrance Alliance, die 2016 den Versuch unternommen haben, für etwas mehr Klarheit bei der Definitionsbestimmung zu sorgen. Dabei wird zwischen „sekundärem Antisemitismus“, „israelbezogenen Antisemitismus“ und „Umwegkommunikationsantisemtismus“ unterschieden, die aber weiterhin sehr viel Interpretationsraum lassen.

Die beiden Autoren vermissen hier klare Kriterien, anhand der man die verschiedenen Formen von Antisemitismus wissenschaftlich und methodisch eindeutiger differenzieren kann. Die Erfahrungswelten der betroffenen Menschen jüdischen Glaubens in Europa sind dabei natürlich von Relevanz, aber sollten nicht als alleinige Grundlage der Unterscheidung dienen. Als Gegenbeispiel wird dabei das Phänomen angeführt, wobei viele Bürgerinnen die Anzahl von Straftaten bei weitem überschätzen, wohingegen die staatlichen Statistiken bei vielen Straftatbeständen einen merklichen Rückgang erkennen lassen.

Das führen die beiden Publizisten auch auf die Nebeneffekte der zunehmenden Kommunikation über die Vielzahl von verschiedenen digitalen sozialen Medien zurück, die aber auch viele andere Formen von destruktiven Kommunikationsstrategien betreffen – und auch für sich genommen keine neue Qualität von Antisemitismus alleine begründen können.

Als große Herausforderung für die Gesellschaft wird dabei die Notwendigkeit einer Kontextualisierung angeführt, statt das Problem isoliert von anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. Deshalb bekräftigen Stein und Zimmermann ihre immanente Forderung, dass man den Kampf gegen alle Formen von Hass und Rassismus gemeinsam diskutieren sollte und empfehlen, dass die Bundesregierung den Auftrag des „Beauftragen für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ entsprechend erweitert.

Positiv heben die beiden Autoren hervor, dass die Öffentlichkeit in Deutschland  empfindsamer beim Thema Antisemitismus geworden ist. Allerdings wurde dieser erst einmal positive Aspekt durch eine „Überempfindlichkeit“ beim „israelbezogenen Antisemitismus“ erkauft. Hier wünschen sich Stein und Zimmermann klarere Kriterien, um diese Form des Antisemitismus besser erkennen und bekämpfen zu können. 

Aktuell unterstellen sie vor allem dem israelischen Premier Netanyahu eine unredliche Agenda, da seine Regierung jegliche Kritik am Regierungshandeln pauschal als Antisemitismus abwertet, dabei aber selbst keine Scheu zeigt, mit Politikern zu kooperieren, die mit eindeutigen antijüdischen Stereotypen Wahlkämpfe und Kampagnen gestaltet haben. Als besonders eklatantes Beispiel führen sie die freundschaftlichen Kontakte Netanyahus zum rechtsdogmatischen ungarischen Premier Viktor Orban an, der während des letzten Wahlkampfes offen mit diffamierenden antisemitischen Parolen Wahlkampf gemacht hat und dabei vor allem auf die jüdische Herkunft des in Ungarn geborenen Investmentbankers George Soros anspielte und damit antijudaistische Stereotype transportierte.

Dabei ist es weiterhin wichtig und richtig, dass alle Menschen wissen, welche Verbrechen und Grausamkeiten in Auschwitz geschehen sind, da man nur so aus den Erfahrungen der Geschichte lernen und die weitergehenden Schlüsse ziehen kann. Allerdings bedeutet dieses große Angebot an verschiedenen Wissensangeboten seitens von staatlichen und privaten Organisationen nicht, dass sich Vorurteile gegenüber Juden pauschal reduzieren lassen. Die beiden Autoren fragen hingegen, ob nicht vielleicht auch eine intensive Beschäftigung mit dem Problem des Antisemitismus dazu führen konnte, dass zwei Drittel der Europäer die Zahl der Juden in ihren Staaten bei weitem überschätzen.

Stein und Zimmermann zitieren die erschreckende Zahl, dass 38 Prozent der europäischen Juden nach einer Umfrage der Fundamental Rights Agency eine Auswanderung erwägen. Demgegenüber stehen aber die statistisch erfassten Zahlen, demnach seit 2015 ca. 1.000 Juden Deutschland dauerhaft verlassen haben. Doch diese Zahlen sind zwar interessant, so die beiden weiter, aber spielen für das Problem des Antisemitismus keine Rolle. Denn dem steht die Erkenntnis gegenüber, dass „Antisemiten keine realen Juden“ benötigen, um ihre Ideologie zu begründen.

Diese Erkenntnis ist beileibe nicht neu. Der Antisemitismus hat Deutschland nach 1945 nicht verlassen, aber seit den 1960er Jahren konnte man einen merklichen Rückgang verzeichnen. Der Grad an Antisemitismus ist innerhalb der in Deutschland lebenden Menschen seitdem auf einem konstanten Niveau geblieben, wobei aktuell ca. 20 Prozent der Menschen in Deutschland judenfeindliche Positionen vertreten.

Dabei sind sich die Vertreterinnen von demokratischen Positionen weitgehend einig, dass man dem Antisemitismus gesamtgesellschaftlich begegnen muss. Die Frage ist nur wie?

Dieses Definitionsproblem manifestieren Stein und Zimmermann an der so genannten BDS-Kampagne, die durch die erhöhte politische und mediale Aufmerksamkeit größer gemacht wird, als sie eigentlich ist. Dazu lenkt der zu starke Fokus auf die BDS-Akteure von dem Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft ab – genauso wie bei der Diskussion um einen importierten Antisemitismus von Menschen aus muslimisch geprägten Ländern.

Einen der Gründe sehen die Autoren darin, dass alleine der Antisemitismusvorwurf von allen Politikern und Medien des demokratischen Spektrums gefürchtet wird, sodass gerechtfertigte Kritik am Regierungshandeln der israelischen Regierung zu oft in die Nähe des Antisemitismus gerückt wird. Deshalb ist es für Stein und Zimmermann auch nicht verwunderlich, dass sich populistische und rassistische Politiker auch nur zu gerne als Freunde Israels zeigen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, selbst als Antisemiten angegriffen werden zu können.

Diese Diskussionskultur führt aus Sicht der Publizisten dazu, dass der aktuelle Diskurs um Judenfeindlichkeit und Antisemitismus dazu missbraucht wird, pauschal alle kritischen Positionen gegenüber der israelischen Besatzungspolitik pauschal in die Nähe des Antisemitismus zu rücken – wohlwissend, dass dabei einige Kritiker an der Politik Israels eine Nähe zu solchen Meinungen erkennen lassen.

Durch den Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 wurde die deutsche Öffentlichkeit und Politik wachgerüttelt und alle daran erinnert, dass antisemitische Hetze auch von einigen Menschen praktisch in die Tat umgesetzt werden kann. Der Anschlag war und ist ein klarer Fall: Ein selbst ernannter Antisemit, hat eine jüdische Synagoge ausgewählt mit dem Ziel möglichst viele Juden zu töten.

Doch in der praktizierten öffentlichen Debatte um Antisemitismus sind solche klaren Fälle von Hetze und Hass eher die Ausnahme, als die Regel. Es fehlt, so Stein und Zimmermann, an verbindlichen Techniken, um antisemitische von nicht-antisemitischen Haltungen klar zu unterscheiden und nutzen dabei die Analogie der Abseits-Regel im Fußball.

Vor allem bei der Form des israelbezogenen Antisemitismus fehlt es nach Meinung der Autoren an solchen Abgrenzungskriterien, wobei als prägnantes Negativbeispiel die Liste des Simon Wiesenthal Centers genannt wird, bei der die „zehn schlimmsten Antisemiten“ eines Jahres genannt werden. So fand sich 2017 der Name von Michael Müller, des noch Regierenden Bürgermeisters der Hauptstadt Berlin, weil er sich angeblich nicht ausreichend gegen die BDS-Bewegung gestellt habe. Nach Ansicht von Stein und Zimmermann dienen solche „Abschusslisten“ nicht dem Kampf gegen den Antisemitismus, sondern führen eher zu einer Relativierung dieses Begriffs und sind damit kontraproduktiv.

Fazit

Stein und Zimmermann gelingt es verschiedene Problematiken bei der Diskussionen über „echten“ oder „unechten“ Antisemitismus darzustellen und dabei zu beschreiben, warum es für die demokratischen Parteien momentan so schwierig ist, sich gegenüber dem organisierten Antisemitismus von rechtsdogmatischer Seite zu wehren. Dabei nutzen Parteien wie die AfD in Deutschland oder die PVV in den Niederlanden antimuslimische Stereotype, um darauf aufbauend der breiten Mehrheit von Muslimen in ihren Ländern ihrerseits einen strukturellen und massiven Antisemitismus vorzuwerfen. 

Deshalb kann man Stein und Zimmermann nur folgen, wenn sie fordern, dass man die unterschiedlichen Aspekte des Antisemitismus und der Judenfeindlichkeit in den größeren Kontext des Rassismus setzt. Denn der Antisemitismus ist sicherlich die prägnanteste Ausprägung einer menschenfeindlichen Grundhaltung – aber beileibe nicht die einzige.

Das bedeutet, dass man auf tatsächlich beobachtbaren Formen von Antisemitismus von muslimischer Seite konstruktiv hinweist, ohne sich dabei selbst in einem Netz von Stereotypen und Vereinfachungen zu verfangen. Das ist anstrengend – und je nach Fall auch kompliziert. Es geht den beiden Autoren dabei nicht um die klaren Fälle von Judenfeindlichkeit, wie das erschreckende Beispiel des Anschlags in Halle 2019 oder das Attentat in Pittsburgh 2018 leidvoll belegen. Es geht vielmehr um die Fälle in der Grauzone, für die es keine genauen Abgrenzungskriterien gibt.

Wenn der Vorwurf „Antisemitismus“ beliebig im Zuge der politischen und medialen Auseinandersetzungen genutzt wird, nutzt er sich nicht nur stetig ab. Im Gegenteil: Durch die willkürliche Definition, je nach eigener Agenda und politischen Kalkül, verwässert der Vorwurf sich immer weiter, je weniger man genau definieren kann, was genau an einer gewissen Aussage oder politischen Position antisemitisch sein soll.

Die aktuelle Regierung unter dem Premier Netanyahu hat dies für ihre eigene politische Agenda sehr gut ausgenutzt und nutzt den Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus bei allen kritischen Beiträgen, wobei aber auch hier, natürlich auch viele unterschiedliche Akteure das Mittel der Israelkritik nutzen und dabei antisemitische Stereotype zu transportieren.

Stein und Zimmermann fokussieren sich in ihren lesenswerten Beitrag auf das Problem, dass bei der aktuellen unspezifischen Nutzung des Antisemitismusvorwurfes vor allem latent rechtsextreme und rechtsdogmatische Akteure und Parteien profitieren, da sie mit einer vorgeschobenen Israelunterstützung ihrerseits religiös strukturierte Stereotype vor allem gegen Muslime verdecken.

Diese Erkenntnis ist zweifellos richtig und historisch durch eine Vielzahl von Tatsachen belegt. Das Thema Antisemitismus ist aber aus Sicht des Autors aber vor allem deshalb so kompliziert, weil antisemitische und judenfeindliche Haltungen keine Erfindung von Rechtsextremen ist, sondern auch in der Mitte, aber vor allem auch in linksdogmatischen Kreisen sehr oft zu finden waren und sind.

In der bundesdeutschen Geschichte (über die nicht vorhandene Bearbeitung des Themas in der DDR schreibt Benz im gleichen Sammelband) lassen sich eine Vielzahl von Ereignissen und Äußerungen auf der linksgeprägten bis linksdogmatischen Seite finden – und zwar lange vor dem Auftreten der linken BDS-Kampagne. Ein kurzer Blick auf die Geschichte soll dabei verdeutlichen, warum der Begriff des Antisemitismus so politisch und ideologisch auf allen Seiten des politischen Spektrums aufgeladen sein kann.

Das erschreckendste Beispiel für blinden Judenhass auf linksextremer Seite aus Deutschland ist sicherlich die Entführung einer Air France Maschine 1976, bei der deutsche und palästinensische linksextreme Terroristen der „Revolutionären Zellen“ die jüdischen von den nicht jüdischen Passieren  auf dem Flughafen in Entebbe in Uganda selektiert haben. Nur knapp 30 Jahre nach dem Menschheitsverbrechen von Auschwitz haben sich damals  wieder zwei Deutsche selbstermächtigt, um über das Leben und Sterben von Juden zu entscheiden.

Im Bereich der linksgeprägten Kultur lassen sich auch Beispiele für antisemitische Stereotype finden. Mitte der 1980er Jahre sorgte der Regisseur Rainer Werner Fassbinder mit dem Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ für einen großen Skandal, weil er dort nach Meinung vieler Journalisten und Publizisten das schrecklich-dumme Stereotyp vom „gierigen Juden“ mit der Person Ignatz Bubis verbunden hat, was zu großen Protesten und auch Boykottaufrufen geführt hat.

Aufseiten der politischen Linken lassen sich ebenfalls Beispiele finden, die von einigen politischen Beobachtern als Ausweis einer strukturellen antisemitischen Haltung angesehen wurden. Exemplarisch sei hier an die die Nahost-Reise von Hans-Christian Ströbele 1991 erinnert. Ströbele verteidigte die irakischen Raketenangriffe auf Israel und forderte, Deutschland sollte keine Waffen mehr an Israel liefern. Ströbele wurde daraufhin nicht mehr von den offiziellen Regierungsvertretern in Israel empfangen und musste kurze Zeit später von seinem Posten als Vorstandsprecher der – damals noch linken – Grünen zurücktreten. 

Es lassen sich noch viele weitere, kleinere Beispiele finden, bei der kritische Stimmen gegen den Zionismus, von vielen weiteren Beobachtern auch im Kern als antisemitisch gewertet worden.

Diese drei Beispiele sollen an dieser Stelle verdeutlichen, dass eines der Hauptprobleme an der Diskussion um den Themenkomplex Antisemitismus gerade darin liegt, dass dies eben nicht nur ein Problem von rechtsdogmatischen Parteien und Akteuren ist, sondern im Gegenteil: Der Antisemitismus ist in allen politischen Lagern zu finden – und auch in der ominösen, bisweilen eher unpolitischen Mitte.

Deshalb ist es auch nur verständlich, dass  eine Rede, ein Text, ein TV-Sketch,  eine Dokumentation oder ein Kabarettprogramm  von unterschiedlichen Akteuren, mit unterschiedlichen philosophischen und politischen Grundhaltungen eben auch sehr unterschiedlich als „antisemitisch“ oder eben „nicht antisemitisch“ gewertet werden können. 

Ein Patentrezept gegen den „echten“ und strukturellen Antisemitismus gibt es nicht. Das Bonmot, dass Antisemiten gar keine Juden brauchen, um ihre judenfeindliche Einstellung zu leben und zu publizieren ist leider wahrer als man beim ersten Lesen vielleicht erkennen mag.

Eine Antwort, neben vielen weiteren, kann nur im offenen Diskurs und in möglichst undogmatischen Formen der Auseinandersetzung liegen. In einer offenen Gesellschaft im Sinne Poppers ist die öffentliche und konstruktive Debatte die einzige Möglichkeit, um solche Auseinandersetzungen um Definitionen zu führen.

Das ist in Zeiten der permanenten Zurschaustellung der eigenen narzisstischen Persönlichkeitsanteile in den Sozialen Medien natürlich ein naiver Gedanke. Die digitale Herdenmentalität führt dazu, dass mit solchen Begriffen auch viel zu oft Schindluder im Sinne der eigenen Agenda geführt wird. Dies betrifft natürlich nicht nur die Auseinandersetzung über echten oder vermeintlichen Antisemitismus, sondern betrifft nahezu alle politischen Auseinandersetzungen.

Deshalb kann man Stein und Zimmermann in ihrer Analyse nur folgen, wenn sie fordern, dass man das Thema Antisemitismus nicht isoliert betrachtet, sondern in einen größeren Kontext von anderen Formen von Menschenfeindlichkeit stellt. 

Dabei ist es auch ein Ausdruck des politischen Immunsystems einer Gesellschaft, dass der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz  schwerer wiegt, als andere Vorwürfe von Rassismus. 

Es sollte dabei Aufgabe für uns alle sein, dass man weiterhin beim Thema Antisemitismus in Deutschland auch in den kommenden Jahrzehnten etwas hellhöriger ist und bleibt.

Autor: Nick Passau / Oktober 2020

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